Der Kommissar redet und redet, aber vielleicht ist er nicht ganz so überlegen, wie er tut. Er hat wenig gegessen, dafür rasch und viel getrunken. Vielleicht sitzt eine Unruhe in ihm, der ganze Mann ist von einer bei ihm ungewohnten Nervosität. Mal spielt er mit Brotkugeln, und dann fasst er ganz plötzlich rasch nach der Gesäßtasche, in der die leichte Pistole sitzt, wobei er einen raschen Blick auf Kluge wirft.
Der Enno sitzt ziemlich teilnahmslos dabei. Er hat tüchtig gegessen, aber kaum getrunken. Er ist immer noch völlig verwirrt, er weiß nicht, was er aus dem Kommissar machen soll. Ist er nun verhaftet, oder ist er es nicht? Enno kapiert nichts.
Das erklärt ihm grade der Escherich. »Da sitzen Sie, Herr Kluge«, sagt er, »und wundern sich über mich. Ich habe natürlich geschwindelt, mein Hunger war gar nicht so groß, ich will nur die Zeit totschlagen bis nach zehn Uhr. Wir müssen nämlich erst einmal einen kleinen Spaziergang machen, und da wird sich ja zeigen, was ich mit Ihnen anfangen soll. Ja – das – wird – sich – da – zeigen …«
Der Kommissar hat immer leiser, nachdenklicher und langsamer gesprochen, und Enno Kluge wirft einen argwöhnischen Blick auf ihn. Irgendeine neue Teufelei steckt sicher hinter dem kleinen Spaziergang um zehn Uhr nachts. Aber welche? Und wie kann er ihr entgehen? Der Escherich passt auf wie der Teufel, nicht einmal auf die Toilette darf Kluge allein gehen.
Der Kommissar fährt fort: »Die Sache ist die, dass ich meinen Mann erst nach zehn Uhr erreiche. Er wohnt draußen in Schlachtensee, verstehen Sie, Herr Kluge? Das ist das, was ich einen kleinen Spaziergang nenne.«
»Und was habe ich damit zu tun? Kenne ich den Mann? Ich kenne doch keinen Menschen in Schlachtensee! Ich habe immer um den Friedrichshain rum gewohnt …«
»Ich denke, dass Sie ihn vielleicht doch kennen. Ich möchte, dass Sie ihn sich einmal ansehen.«
»Und wenn ich ihn angesehen habe, und es hat sich herausgestellt, dass ich ihn nicht kenne, was dann? Was wird dann mit mir?«
Der Kommissar macht eine gleichgültige Bewegung: »Das wird sich dann schon zeigen. Ich denke mir, Sie werden den Mann kennen.«
Beide schweigen. Dann fragt Enno Kluge: »Hat das wieder mit dieser verdammten Postkartengeschichte zu tun? Ich wollte, ich hätte dieses Protokoll nie unterschrieben. Ich hätte Ihnen den Gefallen nicht tun sollen, Herr Kommissar.«
»Wirklich? Ich glaube beinah, Sie haben recht, für Sie wie für mich wäre es besser gewesen, Sie hätten nicht unterschrieben, Herr Kluge!« Er starrt sein Gegenüber so düster an, dass Enno Kluge einen neuen Schreck bekommt. Der Kommissar bemerkt es. »Nunu«, sagt er beruhigend, »wir werden ja sehen. Ich denke, wir trinken noch einen Schnaps und fahren dann los. Ich möchte gern noch den letzten Zug in die Stadt zurück bekommen.«
Kluge starrt ihn entsetzt an. »Und ich?«, fragt er mit zitternden Lippen. »Soll ich – da – draußen – bleiben?«
»Sie?«, der Kommissar lachte. »Sie werden natürlich mit mir fahren, Herr Kluge! Was starren Sie mich denn so entsetzt an? Ich habe doch nichts gesagt, das Sie so erschrecken könnte. Natürlich werden wir beide zusammen in die Stadt zurückfahren. Da kommt der Kellner mit unserm Schnaps. Ober, warten Sie einen Augenblick, wir geben Ihnen die Gläser gleich zum Umtauschen.«
Wenig später waren sie auf dem Weg zum Bahnhof Zoo. Sie fuhren mit der S-Bahn, und als sie in Schlachtensee ausstiegen, war die Nacht so dunkel, dass sie im ersten Augenblick ratlos auf dem Bahnhofsplatz standen. Wegen der Verdunklung sah man nirgends ein Licht.
»In dieser Finsternis finden wir nie den Weg«, sagte Kluge angstvoll. »Herr Kommissar, bitte, lassen Sie uns zurückfahren! Bitte! Ich will lieber die Nacht bei Ihnen auf der Gestapo sitzen, als …«
»Reden Sie keinen Unsinn, Kluge!«, unterbrach ihn der Kommissar grob und zog den Arm des Schmächtigen fest durch den seinen. »Glauben Sie, ich fahre hier die halbe Nacht mit Ihnen spazieren, um eine Viertelstunde vor dem Ziel umzukehren?« Etwas sanfter fuhr er fort: »Ich kann jetzt schon ganz gut sehen. Wir müssen den Nebenweg da nehmen, da kommen wir am schnellsten zum See …«
Schweigend gingen sie los, beide vorsichtig mit den Füßen nach unsichtbaren Hindernissen tastend.
Als sie ein Stück Weg gegangen waren, schien die Luft vor ihnen heller zu werden.
»Sehen Sie, Kluge«, sagte der Kommissar, »ich wusste doch, ich kann mich auf meinen Ortssinn verlassen. Da haben wir schon den See!«
Kluge schwieg, und schweigend gingen sie weiter.
Es war eine ganz windstille Nacht, alles war ruhig. Kein Mensch begegnete ihnen. Das glatte Wasser des Sees, das sie eher ahnten als sahen, schien eine graue Helle auszudünsten, als gäbe es den schwächsten Schein des am Tage aufgefangenen Lichts zurück.
Der Kommissar räusperte sich, als wollte er sprechen, und schwieg weiter.
Plötzlich hielt Enno Kluge an. Mit einem Ruck befreite er seinen Arm aus dem seines Begleiters. Er rief fast schreiend: »Jetzt gehe ich keinen Schritt mehr weiter! Wenn Sie mir was tun wollen, können Sie es ebenso gut hier wie eine Viertelstunde weiter tun! Kein Mensch kann mir zu Hilfe kommen! Es muss Mitternacht sein!«
Wie um diese Worte zu bestätigen, fing eine Uhr plötzlich zu schlagen an. Der Klang kam überraschend nah und scholl durch die dunkle Nacht. Unwillkürlich zählten die Männer mit.
»Elf!«, sagte dann der Kommissar. »Elf Uhr. Es ist noch eine Stunde bis Mitternacht. Kommen Sie, Kluge, wir haben nur noch fünf Minuten zu gehen.«
Und wieder fasste er nach dem Arm des anderen.
Aber Kluge riss sich mit überraschender Kraft los: »Ich hab gesagt, ich geh keinen Schritt weiter, und ich geh keinen Schritt weiter!«
Seine Stimme überschlug sich vor Angst, so schrie er. Aufgeschreckt flog ein Wasservogel im Schilf hoch und strich schwerfällig ab.
»Schreien Sie doch nicht so!«, sagte der Kommissar ärgerlich. »Sie machen ja den ganzen See rebellisch!«
Dann besann er sich: »Also schön, ruhen Sie sich einen Augenblick aus. Sie werden schon Vernunft annehmen. Wollen wir uns hier hinsetzen?«
Und wieder fasste er nach Kluges Arm.
Enno schlug nach der fassenden Hand. »Ich lasse mich nicht mehr von Ihnen anfassen! Tun Sie mit mir, was Sie wollen, aber fassen Sie mich nicht an!«
Der Kommissar sagte scharf: »Das ist nicht der Ton, in dem man mit mir spricht, Kluge! Was bist du denn? Ein feiger, kleiner, dreckiger Hund!«
Auch den Kommissar begannen seine Nerven zu verlassen.
»Und Sie?«, schrie wieder Kluge, »und was sind Sie? Ein Mörder sind Sie, ein gemeiner Meuchelmörder!«
Er erschrak selbst über das, was er da gesagt hatte. Er murmelte: »Ach, entschuldigen Sie, Herr Kommissar, ich habe das nicht so gemeint …«
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