»Das ist maßlos übertrieben. Übrigens habe ich tatsächlich eine sehr große Familie. Sechs Geschwister, alle kinderreich verheiratet.«
»Und so würdige alte Herren und Damen unter Ihren Neffen und Nichten!«
»Ihre Eltern besuchen mich natürlich auch dann und wann.«
»Eine sehr große, reiselustige Familie … Übrigens, was ich noch fragen wollte: Wo haben Sie eigentlich Ihren Radioapparat zu stehen, Fräulein Schönlein? Ich habe eben keinen gesehen.«
Sie presste die Lippen fest zusammen. »Ich besitze keinen Radioapparat.«
»Sicher!«, sagte der Kommissar. »Sicher. Genau, wie Sie nie zugeben werden, dass Sie Zigaretten rauchen. Aber Radiomusik ist der Lunge nicht schädlich.«
»Aber der politischen Gesinnung«, antwortete sie ein wenig spöttisch. »Nein, ich besitze keinen Radioapparat. Wenn Musik aus meiner Wohnung gehört worden ist, so handelt es sich dabei um ein Koffergrammophon, das dort in Ihrem Rücken auf dem Regal steht.«
»Und das in fremden Sprachen spricht«, ergänzte der Kommissar.
»Ich habe viele ausländische Tanzplatten. Ich halte es für kein Verbrechen, sie auch jetzt im Kriege meinen Besuchern gelegentlich vorzuspielen.«
»Ihren Neffen und Nichten? Nein, das wäre wirklich kein Verbrechen.«
Er stand auf, die Hände in den Taschen. Plötzlich sprach er nicht mehr spöttisch, er sagte brutal: »Was meinen Sie, was wird, wenn ich Sie jetzt hopsnehme, Fräulein Schönlein, und einen kleinen heimlichen Posten hier in Ihrer Wohnung platziere? Der würde dann Ihre Besucher in Empfang nehmen und sich die Papiere Ihrer Neffen und Nichten genauer ansehen. Vielleicht bringt einer der Besucher sogar einen Radioapparat mit! Was meinen Sie?«
»Ich meine«, sagte Fräulein Schönlein unerschrocken, »dass Sie von vornherein die Absicht hatten, mich festzunehmen. Also ist es ganz gleichgültig, was ich sage. Gehen wir! Ich darf nur wohl schnell ein Kleid statt dieser Trainingshosen anziehen?«
»Einen Augenblick noch, Fräulein Schönlein!«, rief der Kommissar ihr nach.
Sie blieb stehen und wandte sich, die Hand auf der Klinke, nach dem Mann um.
»Einen Augenblick noch! Es ist natürlich vollkommen richtig, wenn Sie den Herrn in Ihrem Kleiderschrank noch vor unserm Fortgehen befreien. Schon vorhin, als ich durch Ihr Schlafzimmer ging, schien er mir stark unter Luftmangel zu leiden. Auch ist wahrscheinlich viel Mottenpulver in dem Schrank …«
Jetzt waren die roten Flecke aus ihrem Gesicht verschwunden, weiß wie ein Laken starrte sie ihn an.
Er schüttelte den Kopf. »Kinder! Kinder!«, sagte er mit spöttischer Missbilligung. »Wie leicht ihr es uns doch macht! Und ihr wollt Verschwörer sein? Ihr wollt was gegen diesen Staat ausrichten mit euren kindischen Mätzchen? Ihr schadet allein euch!«
Sie starrte ihn noch immer an. Ihr Mund war fest geschlossen, die Augen glänzten fieberisch, die Hand lag noch immer auf der Klinke.
»Nun, Sie haben Glück, Fräulein Schönlein«, fuhr der Kommissar immer in dem Ton leichter, verächtlicher Überlegenheit fort, »insofern, als Sie mir heute ganz uninteressant sind. Ich interessiere mich heute nur für diesen Herrn in Ihrem Kleiderschrank. Es kann sein, wenn ich mir auf meinem Büro Ihren Fall genauer überlege, dass ich mich dann verpflichtet fühle, der zuständigen Stelle über Sie eine Meldung zu machen. Es kann sein, sage ich, ich weiß es noch nicht. Vielleicht scheint mir dann Ihr Fall zu unbeträchtlich – besonders im Hinblick auf Ihr Lungenleiden …«
Plötzlich brach es aus ihr hervor: »Ich will keine Gnade von euch! Ich hasse euer Mitleid! Mein Fall ist nicht unbeträchtlich! Jawohl, ich habe regelmäßig politisch Verfolgten Unterkunft gewährt! Ich habe ausländische Sender abgehört! So, nun wissen Sie es! Nun können Sie mich nicht mehr schonen – trotz meiner Lunge!«
»Mädchen!«, sagte er spöttisch und sah die seltsam altjüngferliche Gestalt in der Trainingshose und dem gelben, rotknöpfigen Pullover fast mitleidig an, »bei Ihnen ist es ja nicht nur die Lunge, bei Ihnen sind es auch die Nerven! Eine halbe Stunde Verhör bei uns, und Sie würden staunen, was für ein schreiender, jammervoller Dreckhaufen Ihr Leib ist! Es ist sehr unangenehm, wenn man das an sich entdeckt, diese Kränkung des Selbstgefühls verwinden manche nie, bammeln sich hinterher auf.«
Er sah sie noch einmal an, nickte nachdenklich mit dem Kopf. Er sagte verächtlich: »Und so was nennt sich Verschwörer!«
Sie zuckte zusammen, wie von einer Peitsche getroffen, aber sie antwortete mit keinem Wort.
»Doch wir vergessen über unserer netten Unterhaltung ganz Ihren Besucher im Kleiderschrank«, fuhr er dann fort. »Kommen Sie, Fräulein Schönlein! Wenn wir ihn nicht bald erlösen, ist er hinüber.«
Er war wirklich nahe am Ersticken, der Enno Kluge, als ihn Escherich aus dem Schrank zog. Der Kommissar legte das Männlein auf eine Chaiselongue und bewegte ein paarmal seine Arme auf und ab, um bessere Luft in seine Lungen zu bringen.
»Und nun«, sagte er und sah zu der Frau hin, die wortlos im Zimmer stand, »und nun, Fräulein Schönlein, lassen Sie mich am besten eine Viertelstunde mit dem Herrn Kluge allein. Sie setzen sich wohl in die Küche, die ist zum Lauschen am ungeeignetsten.«
»Ich lausche nie!«
»Nein, wie Sie nie Zigaretten rauchen und nur Neffen und Nichten mit Schallplattenmusik erfreuen! Nein, besser, Sie setzen sich in die Küche. Ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche!«
Er nickte ihr noch einmal zu und überzeugte sich dann davon, dass sie wirklich in die Küche gegangen war. Dann wendete er sich zu Herrn Kluge, der jetzt auf dem Sofa saß und mit seinen farblosen Augen angstvoll auf den Kommissar starrte. Schon fingen die Tränen an, über sein Gesicht zu rollen.
»Nu, nu, Herr Kluge«, sagte der Kommissar beruhigend. »So sehr freuen Sie sich über das Wiedersehen mit dem ollen Kommissar Escherich? Sie haben sich also nach mir gesehnt? Die Wahrheit zu sagen, ich habe mich auch nach Ihnen gesehnt und bin glücklich, Sie wiedergefunden zu haben. Nun soll uns so bald nichts wieder trennen, lieber Herr Kluge!«
Die Tränen Ennos rannen stromweis. Er schluchzte hastig: »Ach, Herr Kommissar, Sie haben mir doch fest versprochen, mich freizulassen!«
»Habe ich Sie denn nicht freigelassen?«, fragte der Kommissar erstaunt. »Aber das schließt doch nicht aus, dass ich Sie immer mal wieder festnehme, wenn ich mich nach Ihnen sehne. Vielleicht habe ich ein neues Protokoll zu unterschreiben, was, Herr Kluge? Sie als mein guter Freund werden mir doch so einen kleinen Gefallen nicht abschlagen, was?«
Enno erzitterte unter dem Blick dieser mitleidslos auf ihn gerichteten, höhnischen Augen. Er wusste, diese Augen würden alles aus ihm herausziehen, alles würde er gleich ausquatschen, und dann war er verloren, für immer und ewig, so oder so …
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