Escherich beachtet das gar nicht, er fragt Barkhausen, wieso der Enno jetzt hier im Westen wohnt, wie er ihm auf die Spur gekommen ist.
Barkhausen muss das ausführlich berichten, der Kommissar macht sich Notizen über Frau Hete Häberle, die Tierhandlung, die abendliche Knieszene: diesmal schreibt der Kommissar alles auf. Natürlich ist der Bericht, den Barkhausen macht, nicht ganz vollständig, das kann man aber auch nicht verlangen. Niemand kann von einem Manne verlangen, dass er seinen eigenen Reinfall gesteht. Denn wenn Barkhausen berichtet, wie er zu dem Geld der Häberle gekommen ist, müsste er auch berichten, wie es wegkam. Er müsste wohl auch von den zweitausend Eiern erzählen, die jetzt schon für ihn nach München rollen. Nee, aber das kann keiner von ihm verlangen!
Wäre Escherich ein bisschen besser in Form gewesen, so wären ihm einige Ungereimtheiten in dem Bericht seines Spitzels aufgefallen. Aber Escherich ist innerlich immer noch stark mit anderen Dingen beschäftigt, am liebsten schickte er diesen Barkhausen fort. Aber er braucht ihn noch eine Weile, und so sagt er denn zu ihm: »Warten Sie hier!«, und geht wieder zu dem Haus.
Doch er geht nicht gleich in das Gartengebäude, sondern begibt sich in die Portierloge des Vorderhauses und zieht dort Erkundigungen ein. Dann erst betritt er, begleitet von dem Portier, das Gartenhaus und beginnt, langsam die Treppen bis in den vierten Stock hinaufzusteigen.
Dass der Enno Kluge hier im Hause ist, hat der Portier ihm nicht bestätigen können. Der Portier ist nur für die Herrschaften im Vorderhaus da, nicht für die Leute im Gartengebäude. Aber er kennt natürlich alle, die dort wohnen, schon weil er die Lebensmittelkarten zu verteilen hat. Manche kennt er gut, manche kennt er weniger gut. Da ist zum Beispiel das Fräulein Anna Schönlein im vierten Stock, der ist das ohne Weiteres zuzutrauen, dass sie solchen Mann aufnimmt. Die hat der Portier sowieso auf dem Strich, ewig übernachtet alles mögliche Gesindel bei der, und der Postsekretär in der dritten Etage darunter behauptet ja steif und fest, sie höre nachts auch ausländische Sender ab. Nur konnte es der Sekretär noch nicht beschwören, aber er wollte fleißig weiter horchen. Ja, der Portier hatte wegen dieser Schönlein schon mal mit dem Blockwalter sprechen wollen, aber ebenso gut sagte er es jetzt dem Herrn Kommissar. Der sollte es zuerst ruhig bei der Schönlein versuchen, und erst, wenn sich herausstellte, dort war der Mann wirklich nicht, könnte man auf den anderen Etagen nachfragen. Aber im Allgemeinen wohnten nur anständige Leute auch hier hinten im Gartenhaus.
»Hier ist es!«, flüstert der Portier.
»Bleiben Sie hier stehen, damit man Sie durchs Guckloch sieht«, flüstert der Kommissar zurück.
»Sagen Sie irgendwas, warum Sie kommen, wegen des Schweinefutters für die NSV 1oder wegen dem WHW.« 2
»Ist gemacht!«, sagt der Portier und klingelt.
Eine Weile erfolgt gar nichts, der Portier klingelt ein zweites und ein drittes Mal. Aber in der Wohnung bleibt alles still.
»Nicht zu Hause?«, flüstert der Kommissar.
»Ich weiß doch nicht!«, sagt der Portier. »Ich habe die Schönlein heute noch nicht auf der Straße gesehen.«
Und er klingelt ein viertes Mal.
Ganz plötzlich öffnet sich die Tür, die beiden haben kein Geräusch aus der Wohnung gehört. Eine lange, dürre Frau steht vor ihnen. Sie hat ausgebeutelte, verfärbte Trainingshosen an, und oben trägt sie einen kanariengelben Pullover mit roten Knöpfen. Sie hat ein scharfliniges, mageres Gesicht, das rotfleckig ist, rotfleckig, wie es so oft die Gesichter der Tuberkulösen sind. Auch ihre Augen glänzen wie im Fieber.
»Was ist?«, fragt sie kurz und verrät keinerlei Erschrecken, als der Kommissar sich so dicht in die Tür stellt, dass sie nicht geschlossen werden kann.
»Ich möchte gerne mal ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Fräulein Schönlein. Ich bin der Kommissar Escherich von der Geheimen Staatspolizei.«
Wieder nichts von Erschrecken; die Frau sieht ihn nur immer weiter mit ihren glänzenden Augen an. Dann sagt sie rasch: »Kommen Sie!«, und geht ihm voran in die Wohnung.
»Sie bleiben hier an der Tür«, flüstert der Kommissar dem Portier zu. »Und wenn jemand raus- oder reinwill, rufen Sie mich!«
Es ist ein etwas liederliches, verstaubtes Zimmer, in das der Kommissar geführt wird. Uralte Plüschmöbel mit Säulen und Kugeln aus Großvaters Zeiten. Vorhänge aus Samt. Eine Staffelei, auf der das Bild eines vollbärtigen Mannes steht, ein vergrößertes koloriertes Foto. In der Luft hängt Zigarettenrauch, ein paar Stummel liegen im Aschenbecher.
»Was ist?«, fragt Fräulein Schönlein wieder.
Sie ist am Tisch stehen geblieben, hat den Kommissar nicht zum Sitzen aufgefordert.
Aber der Kommissar setzt sich doch, er zieht eine Schachtel mit Zigaretten aus der Tasche und deutet dabei auf das Bild. »Wer ist denn das?«, fragt er.
»Mein Vater«, sagt die Frau. Und fragt noch einmal: »Was ist?«
»Ich wollte Sie Verschiedenes fragen, Fräulein Schönlein«, sagt der Kommissar und hält ihr die Zigaretten hin. »Aber setzen Sie sich doch und nehmen Sie sich eine Zigarette!«
Die Frau sagt rasch: »Ich rauche nie!«
»Eins, zwei, drei, vier«, zählt Escherich die Stummel im Aschenbecher. »Und Tabakrauch im Zimmer. Sie haben Besuch, Fräulein Schönlein?«
Sie sah ihn ohne Schrecken und ohne Angst an. »Ich gebe nie zu, dass ich rauche«, sagt sie dann, »weil mir der Arzt nämlich das Rauchen wegen meiner Lunge verboten hat.«
»Sie haben also keinen Besuch?«
»Ich habe also keinen Besuch.«
»Ich werde mir mal rasch Ihre Wohnung ansehen«, erklärt der Kommissar und steht auf. »Nein, bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich finde meinen Weg schon.«
Er ging schnell durch die beiden anderen, mit Sofas, Vertikos, Schränken, Sesseln und Säulen überfüllten Zimmer. Einmal blieb er stehen und lauschte, das Gesicht einem Schrank zugewendet, er lächelte dabei. Dann kehrte er wieder zu Fräulein Schönlein zurück. Sie stand noch, wie er sie verlassen, am Tisch.
»Mir ist gemeldet worden«, sagte er, sich wieder hinsetzend, »dass Sie viel Besuch empfangen, Besuch, der meist über ein paar Nächte bei Ihnen bleibt, der aber nie gemeldet wird. Sie kennen die Bestimmungen über die Meldepflicht?«
»Bei meinen Besuchen handelt es sich fast nur um Neffen und Nichten, die eigentlich nie mehr als höchstens zwei Nächte bei mir bleiben. Ich glaube, die Meldepflicht beginnt erst mit der vierten Übernachtung.«
»Sie müssen eine sehr große Familie haben, Fräulein Schönlein«, sagte der Kommissar gedankenvoll. »Fast jede Nacht kampieren ein, zwei, manchmal auch drei Personen bei Ihnen.«
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