Als sie Berlin verließen und nach Erkner hinauszogen, hatten sie gemeint, dort in völliger Ruhe, fern der Partei und ihren Forderungen, leben zu können. Wie viele Großstädter hatten sie sich dem sehr irrigen Glauben hingegeben, die Bespitzelung sei nur in Berlin so schlimm, auf dem Lande, in einer kleinen Stadt herrsche noch Anstand. Und wie viele Großstädter hatten sie erfahren müssen, dass grade das Denunziantentum, das Aushorchen und Bespitzeln, in einer kleinen Stadt noch zehnmal schlimmer war als in der Großstadt. In der Kleinstadt konnte man nie untertauchen in der Masse, jeder war klar übersichtlich, seine persönlichen Verhältnisse wurden rasch bekannt, Gesprächen mit Nachbarn war kaum aus dem Wege zu gehen, und wie solche Gespräche entstellt werden konnten, das hatten sie schon ein paarmal mit Kummer erfahren müssen.
Da sie beide der Partei nicht angehörten, da sie beide sich bei allen Sammlungen nur mit dem geringstmöglichen Betrage beteiligten, da sie beide die Neigung zeigten, ganz allein für sich statt für die Gemeinschaft zu leben, da sie beide lieber lasen, als dass sie in eine Versammlung gingen, da Hergesell mit seinen dunklen, langen, immer verwirrten Haaren und seinen glühenden schwarzen Augen wie ein richtiger Sozialist und Pazifist aussah (nach Ansicht der Pgs) 1da Trudel in einer leichtsinnigen Minute einmal gesagt hatte, die Juden könnten einem auch leidtun – galten sie in kurzer Zeit für politisch verdächtig, und jeder ihrer Schritte wurde überwacht, jedes ihrer Worte überbracht.
Hergesells litten unter der Atmosphäre von Hass, in der sie in Erkner leben mussten, sehr stark. Aber sie redeten sich ein, dass sie sich nichts daraus machten und dass ihnen nichts passieren könnte, da sie ja gegen diesen Staat nichts taten. »Die Gedanken sind frei«, sagten sie, aber eigentlich hätten sie wissen müssen, dass in diesem Staat nicht einmal die Gedanken frei waren.
So flüchteten sie immer stärker in ihr Liebesglück. Sie waren wie zwei Liebende, die sich in einer Sturmflut, in den Wogen, im Zusammenbruch der Häuser, zwischen ertrinkendem Vieh, aneinandergeklammert haben und glauben, kraft ihrer Gemeinsamkeit, ihrer Liebe dem allgemeinen Untergang entgehen zu können. Sie hatten noch nicht begriffen, dass es in diesem Kriegs-Deutschland ein privates Leben überhaupt nicht mehr gab. Kein Sichzurückziehen rettete davor, dass jeder Deutsche zur Allgemeinheit der Deutschen gehörte und das deutsche Schicksal miterleiden musste – so wie ja auch die immer zahlreicher werdenden Bomben wahllos auf Gerechte wie Ungerechte fielen.
Auf dem Alexanderplatz trennten sich die Hergesells. Sie hatte eine Schneiderarbeit in der Kleinen Alexanderstraße abzuliefern, während er einen zum Tausch inserierten Kinderwagen besichtigen wollte. Sie verabredeten, sich um die Mittagsstunde wieder auf dem Bahnhof zu treffen, und jedes ging seinen Weg. Trudel Hergesell, der, nach anfänglichen Beschwerden, jetzt im fünften Monat die Schwangerschaft nur ein nie gekanntes Gefühl von Stärke, Selbstvertrauen und Glück verliehen hatte, kam rasch in die Kleine Alexanderstraße und trat in das Treppenhaus.
Vor ihr stieg ein Mann die Treppe hinauf. Sie sah ihn nur von hinten, aber sie erkannte ihn sofort an der charakteristischen Kopfhaltung, dem steifen Nacken, an der langen Gestalt, an den hochgezogenen Schultern: es war Otto Quangel, der Vater ihres früheren Verlobten, jener Mann, dem sie einmal das Geheimnis ihrer illegalen Organisation verraten hatte.
Unwillkürlich hielt sie sich zurück. Es war klar, dass Quangel von ihrer Anwesenheit noch nichts gemerkt hatte. Er stieg ohne Hast, aber gleichmäßig schnell die Treppen hoch. Sie folgte ihm mit einer halben Treppe Abstand, immer bereit, sofort stehenzubleiben, sobald Quangel an einer der vielen Türen dieses Bürohauses klingelte.
Aber er klingelte nicht, sondern sie sah, wie er an einem Treppenfenster stehenblieb, eine Karte aus der Tasche zog und sie auf der Fensterbank niederlegte. Als er so tat, begegnete sein Blick dem der Beobachterin. Aber ob Quangel sie nun erkannt hatte oder nicht, war ihm nicht anzumerken, er ging an ihr vorbei, die Treppe hinunter, ohne sie anzusehen.
Kaum war er etwas tiefer, eilte sie zu dem Fenster und nahm die Karte in ihre Hand. Sie las nur die ersten Worte: »Habt ihr noch immer nicht begriffen, dass der Führer euch schändlich belogen hat, als er sagte, Russland habe zu einem Überfall auf Deutschland gerüstet?«
Dann lief sie Quangel nach.
Sie erreichte ihn, als er das Gebäude verließ, sie drängte sich an seine Seite und sagte: »Hast du mich eben nicht erkannt, Vater? Ich bin’s doch, die Trudel, Ottochens Trudel!«
Er drehte ihr den Kopf zu, der ihr noch nie so vogelhaft hart und böse vorgekommen war wie in diesem Augenblick. Einen Moment glaubte sie, er werde sie nicht wiedererkennen wollen, aber dann nickte er kurz und sagte: »Siehst wohl aus, Mädel!«
»Ja«, sagte sie, und ihre Augen strahlten. »Ich fühle mich auch so kräftig und glücklich wie noch nie. Ich erwarte ein Kindchen. Ich habe mich verheiratet. Bist nicht böse, Vater?«
»Warum soll ich dir böse sein? Wegen des Verheiratetseins? Sei nicht albern, Trudel, du bist jung, und Ottochen ist bald zwei Jahre tot. Nein, nicht einmal die Anna würde dir das Heiraten übelgenommen haben, und die denkt doch noch jeden Tag an ihr Ottochen.«
»Wie geht’s denn der Mutter?«
»Wie immer, Trudel, ganz wie immer. Bei uns alten Leuten ändert sich nichts mehr.«
»Doch!«, sagte sie und blieb stehen. »Doch!« Ihr Gesicht war jetzt sehr ernst geworden. »Doch, es hat sich viel bei euch geändert. Erinnerst du dich, wie wir einmal im Gang der Uniformfabrik standen, unter den Plakaten von den Hinrichtungen? Da hast du mich gewarnt …«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Trudel. Ein alter Mann vergisst vieles.«
»Heute warne ich dich, Vater«, fuhr sie leise, aber umso eindringlicher fort. »Ich habe dich gesehen, wie du die Karte im Treppenhaus hingelegt hast, diese schreckliche Karte, die jetzt in meiner Handtasche steckt.«
Er sah sie unverwandt an mit seinem kalten Auge, das jetzt böse zu leuchten schien.
Sie flüsterte: »Vater, es geht um deinen Kopf. Wie ich können dich andere beobachtet haben. Weiß die Mutter davon, dass du so was tust? Tust du es öfters?«
Er schwieg so lange, dass sie schon meinte, er wolle ihr gar nicht antworten. Aber dann sagte er: »Du weißt doch, Trudel, ich tu nichts ohne die Mutter.«
»Oh!«, stöhnte sie, und Tränen traten in ihre Augen. »Das habe ich gefürchtet. Du reißt auch Mutter herein.«
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