Grigoleit lächelte dünn. »Na schön, Hergesell, ist nett von dir. Ich sehe, du bist noch immer der alte, hilfreiche Genosse. Was machst du denn? Und was macht das kleine, hübsche Mädchen von damals – wie hieß sie doch?«
»Trudel – Trudel Baumann. Ich habe das kleine, hübsche Mädchen von damals übrigens geheiratet, und wir erwarten jetzt ein Kind.«
»Das war ja wohl nicht anders zu erwarten. Besten Glückwunsch.« Die veränderten Lebensumstände der Hergesells schienen Grigoleit nicht sonderlich zu interessieren – und für Karl Hergesell waren sie doch eine ständig sprudelnde Quelle immer neuen Glücks.
»Und was machst du, Hergesell?«, fragte Grigoleit weiter.
»Ich? Du meinst, was ich arbeite? Wieder als Elektrotechniker bei einer chemischen Fabrik in Erkner.«
»Nein, ich meine, was du wirklich tust, Hergesell – für unsere Zukunft.«
»Nichts, Grigoleit«, antwortete Hergesell und fühlte plötzlich so etwas wie Schuld. Er sagte erklärend: »Sieh mal, Grigoleit, wir sind jung verheiratet und leben nur für uns. Was geht uns die Welt draußen an, die mit ihrem Scheißkrieg? Jetzt sind wir glücklich, dass wir ein Kleines haben werden. Sieh mal, Grigoleit, das ist doch auch etwas. Wenn wir uns bemühen, anständig zu bleiben und unser Kind zu einem anständigen Menschen zu erziehen …«
»Wird euch verdammt schwerfallen in dieser Welt, die uns die braunen Herren zurichten! Na, lass man, Hergesell, von euch war nie was anderes zu erwarten. Ihr habt immer mehr mit dem Unterleib als mit dem Kopf gedacht!«
Hergesell lief vor Zorn rot an. Die Verachtung, mit der Grigoleit sprach, war nicht mehr zu überbieten. Und dabei schien er sich nicht einmal etwas Beleidigendes gedacht zu haben, denn er fuhr, ohne die Erregung des anderen zu bemerken, ganz gleichmütig fort: »Ich mach weiter, und der Säugling macht auch weiter. Nein, nicht hier in Berlin. Jetzt sitzen wir sehr viel weiter westlich, das heißt, ich sitze nie, ich bin dauernd unterwegs, gebe so eine Art Kurier ab …«
»Und versprecht ihr euch wirklich etwas davon? Ihr paar Männekens und diese Riesenmaschine …?«
»Erstens sind wir nicht nur ein paar Männekens. Jeder anständige Deutsche, und zwei, drei Millionen gibt’s von denen doch noch, wird mit uns mitmachen. Sie müssen nur erst mal mit ihrer Angst fertig werden. Jetzt ist ihre Angst vor der Zukunft, die uns die braunen Bonzen bescheren werden, noch kleiner als die Angst vor den Drohungen der Gegenwart. Aber das wird sich bald ändern. Eine Weile mag der Hitler noch siegen, aber dann kommen die Rückschläge, er siegt sich einfach tot. Und die Fliegerangriffe werden auch immer massiver werden …«
»Und zweitens?«, fragte Hergesell, den diese Kriegsprognosen, in die sich Grigoleit verlor, herzlich langweilten. »Zweitens …«
»Zweitens, mein lieber Spitz, solltest du wissen, dass es gar nicht darauf ankommt, dass man zu wenigen gegen viele kämpft. Sondern, wenn man erst einmal eine Sache für wahrhaftig erkannt hat, so muss man eben für sie kämpfen. Ob du den Erfolg erlebst oder derjenige, der an deine Stelle getreten ist, das ist ganz egal. Ich kann nicht die Hände in den Schoß legen und sagen: Die sind zwar Schweine, aber was geht es mich an?«
»Ja«, sagte Hergesell. »Aber du bist auch nicht verheiratet, hast nicht für Frau und Kind zu sorgen …«
»Oh, verdammt noch mal!«, schrie Grigoleit angewidert. »Höre auf mit diesem verdammten sentimentalen Geschwätz! Du glaubst ja selbst kein Wort von dem, was du brabbelst! Frau und Kind! Ja, du Idiot, fällt dir gar nicht ein, dass ich schon zwanzigmal hätte verheiratet sein können, wenn es mir darauf angekommen wäre, eine Familie zu gründen?! Aber ich mache so etwas nicht. Ich sage mir, ich habe erst das Recht, privatim glücklich zu sein, wenn Raum für ein solches Glück auf dieser Erde ist!«
»Wir sind sehr weit auseinandergekommen!«, murmelte Karl Hergesell halb gelangweilt, halb bedrückt. »Ich nehm keinem was dadurch, dass ich glücklich bin.«
»Doch, du stiehlst! Du stiehlst Müttern ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Mädchen ihren Freund, solange du duldest, dass die täglich zu Tausenden erschossen werden, und machst nicht einen Finger krumm, um dem Morden Einhalt zu tun. Das weißt du alles ganz gut, und ich frage mich, ob du nicht beinah schlimmer bist als jeder braun in der Wolle gefärbte Nazi. Die sind zu dumm, um zu wissen, was für ein Verbrechen sie begehen. Du aber weißt es und tust doch nichts dagegen! Ob du nicht schlimmer bist als die Nazis? Natürlich bist du schlimmer!«
»Gottlob sind wir hier am Bahnhof«, sagte Hergesell und setzte den schweren Koffer ab. »Ich brauch mich nicht länger von dir anpöbeln zu lassen. Wären wir noch weiter zusammen gewesen, du hättest entdeckt, dass nicht der Hitler, sondern ich, der Hergesell, eigentlich den ganzen Krieg angefangen hat.«
»Hast du auch! Im übertragenen Sinn natürlich. Wenn man es genau nimmt, hat deine Lauheit es erst möglich gemacht …«
Jetzt lachte Hergesell aber doch los, und auch der finstere Grigoleit verstieg sich zu einem Grinsen, als er in dieses lachende Gesicht sah.
»Na, lassen wir das also!«, sagte Grigoleit. »Wir werden uns nie verstehen.« Er strich mit der Hand über die hohe Stirn. »Aber eigentlich könntest du mir einen kleinen Gefallen tun, Hergesell.«
»Ja, gerne, Grigoleit.«
»Ich habe da diesen ollen schweren Koffer, den du eben geschleppt hast. In einer Stunde muss ich weiter nach Königsberg, dort brauch ich den Koffer gar nicht. Willst du ihn nicht solange bei dir in Verwahrung nehmen?«
»Ja, weißt du, Grigoleit«, meinte Hergesell und sah den schweren Koffer mit Abneigung an. »Ich habe dir ja schon gesagt, ich wohne jetzt in Erkner draußen. Das gibt eine ziemliche Schlepperei bis dahin. Warum gibst du den Koffer nicht einfach hier auf der Gepäckaufbewahrung auf?«
»Ja, warum? Warum ist die Banane krumm? Weil ich den Brüdern hier nicht traue. Ich habe alle meine Wäsche und die Schuhe und die besten Anzüge darin. Und hier wird so viel geklaut. Und außerdem die Bomben, die Tommys schmeißen doch besonders gern auf die Bahnhöfe – dann bin ich all mein Hab und Gut los.«
Er drängte: »Also sag schon ja, Hergesell!«
»Na, meinetwegen. Meiner Frau wird’s nicht recht sein. Aber weil du es bist. Aber weißt du, Grigoleit, ich möchte meiner Frau lieber gar nicht sagen, dass ich dich getroffen hab. Das regt sie auf, und das ist ihr und dem Kind nicht gut bei ihrem jetzigen Zustand, weißt du?«
»Schön, schön. Mach das, wie du willst. Die Hauptsache, du bewahrst ihn mir gut auf. In ungefähr einer Woche komme ich vorbei und hole mir den schweren Brocken. Sag mir mal deine Adresse. Schön, schön! Also denn auf baldiges Wiedersehen, Hergesell!«
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