»Auf Wiedersehen, Grigoleit!«
Karl Hergesell trat in den Wartesaal, um sich nach Trudel umzusehen. Er fand sie in eine dunkle Ecke gedrückt, den Kopf an die Rücklehne der Bank gelegt, fest schlafend. Einen Augenblick sah er sie an. Ihr Atem ging sachte. Sachte hob und senkte sich die volle Brust. Der Mund war leicht geöffnet, aber das Gesicht war sehr blass. Es sah sorgenvoll aus, und auf der Stirn standen kleine helle Schweißtropfen, als habe sie sich sehr angestrengt.
Er sah nieder auf die Geliebte. Dann, mit einem plötzlichen Entschluss, fasste er den Koffer Grigoleits und ging mit ihm zur Gepäckaufbewahrung. Nein, für Karl Hergesell war es jetzt das Wichtigste auf der Welt, dass Trudel sich nicht trübe Gedanken machte und sich aufregte. Nahm er den Koffer nach Erkner mit, so musste er ihr von Grigoleit erzählen, und er wusste, dass jede Erinnerung an das »Todesurteil« damals sie sehr erregte.
Als Hergesell mit dem Gepäckaufbewahrungsschein in der Brieftasche zum Wartesaal zurückkommt, ist Trudel aufgewacht und malt sich grade das Mäulchen rot. Sie lächelt ihm, ein wenig blass, zu und fragt: »Was hast du dich denn eben mit so einem großmächtigen Koffer abgeschleppt? Da war bestimmt kein Kinderwagen drin, Karli!«
»Großmächtiger Koffer!«, tut er verwundert. »Ich habe doch keinen großmächtigen Koffer! Ich komme eben erst, und mit dem Kinderwagen war es Essig, Trudel.«
Sie sieht ihn staunend an. Ihr Mann belügt sie? Aber warum denn? Was hat er für Heimlichkeiten vor ihr? Sie hat ihn doch eben hier ganz deutlich hier am Tisch stehen sehen mit dem Koffer, und dann hat er kehrtgemacht und den Koffer aus dem Wartesaal geschleppt.
»Aber, Karli!«, sagt sie ein bisschen gekränkt. »Ich habe dich doch eben erst hier mit dem Koffer am Tisch stehen sehen!«
»Wie soll ich denn zu einem Koffer kommen?«, erwidert er ein bisschen gereizt. »Das hast du geträumt, Trudel!«
»Ich versteh nicht, warum du mich plötzlich anschwindelst! Das haben wir doch noch nie gemacht!«
»Ich schwindle dich nicht an, das verbitte ich mir!« Jetzt ist er ziemlich erregt, sein schlechtes Gewissen macht ihn so. Er besinnt sich und fährt etwas ruhiger fort: »Ich habe dir gesagt, ich bin eben erst gekommen. Von einem Koffer weiß ich nichts, das hast du geträumt, Trudel!«
»So, so«, sagt sie nur und sieht ihn unverwandt an. »So, so. Na schön, Karli. Dann habe ich eben geträumt. Reden wir nicht mehr davon.«
Sie senkt den Blick. Es schmerzt sie tief, dass er Heimlichkeiten vor ihr hat, und dieser Schmerz wird noch brennender dadurch, dass auch sie Heimlichkeiten vor ihm hat. Sie hat dem Otto Quangel versprochen, dass sie ihrem Mann nichts von dem Wiedersehen, geschweige denn von der Karte erzählen wird. Aber recht ist es nicht. Eheleute sollen keine Geheimnisse voreinander haben. Und nun hat auch er welche vor ihr.
Karl Hergesell schämt sich auch. Es ist schändlich, wie schamlos er die Geliebte belügt, und er hat sie sogar angeschnauzt, weil sie die Wahrheit sagt. Er kämpft mit sich, ob er ihr nicht doch lieber von dem Zusammentreffen mit Grigoleit berichtet. Aber er entscheidet: Nein, das würde sie noch mehr aufregen.
»Verzeih, Trudel«, sagt er und drückt rasch ihre Hand. »Verzeih, dass ich dich angeranzt habe. Aber ich habe mich so über die Geschichte mit dem Kinderwagen geärgert. Hör mal zu …«
Der Überfall Hitlers auf Russland hatte Quangels Zorn auf diesen Tyrannen neue Nahrung verliehen. Dieses Mal hatte Quangel das Werden eines solchen Überfalls in allen Einzelheiten verfolgt. Nichts war ihm überraschend gekommen, von den ersten Truppenansammlungen an »unsern Grenzen« bis zu dem Einmarsch. Er hatte von vornherein gewusst, dass sie logen, diese Hitler, Goebbels, Fritzsche, 1jedes Wort war erstunken und erlogen. Niemanden konnten sie in Frieden lassen, und in zorniger Entrüstung hatte er auf eine der Karten geschrieben: »Was haben denn die russischen Soldaten getan, als Hitler sie überfiel? Karten haben sie gespielt, keiner hat in Russland an Krieg gedacht!«
Wenn er jetzt in der Werkstatt an eine Gruppe Schwatzender herantrat, so wünschte er manchmal, wenn sie von Politik sprachen, sie möchten nicht so schnell auseinandergehen. Er hörte jetzt gerne, was andere über den Krieg sagten.
Aber sie versanken sofort in mürrisches Schweigen, es war sehr gefährlich geworden, zu schwatzen. Der vergleichsweise harmlose Tischler Dollfuß war längst abgelöst worden; wer sein Nachfolger war, konnte Quangel nur mutmaßen. Elf seiner Leute, darunter zwei Männer, die schon über zwanzig Jahre in der Möbelfabrik gearbeitet hatten, waren spurlos verschwunden, mitten aus der Arbeit heraus, oder sie kamen eines Morgens nicht mehr. Nie wurde gesagt, wo sie geblieben waren, und das war ein Beweis mehr dafür, dass sie irgendwann einmal ein Wort zu viel gesprochen hatten und darum ins KZ gewandert waren.
Statt dieser elf Mann waren neue Gesichter aufgetaucht, und oft fragte sich der alte Werkmeister, ob nicht alle diese elf Spitzel waren, ob nicht überhaupt die eine Hälfte der Belegschaft die andere belauerte und umgekehrt. Die Luft stank nach Verrat. Keiner konnte dem anderen noch trauen, und in dieser schrecklichen Atmosphäre schienen die Leute immer mehr gegen alles abzustumpfen, wurden nur noch zu Teilen der Maschinen, die sie bedienten.
Aber manchmal flammte dann aus dieser Dumpfheit ein schrecklicher Zorn hoch, so wie damals, als ein Arbeiter den Arm gegen die Säge gepresst und dabei geschrien hatte: »Verrecken soll der Hitler! Und er wird verrecken! So wahr ich mir meinen Arm absäge!«
Sie hatten diesen Wahnsinnigen nur schwer aus der Maschine reißen können, und natürlich hatten sie nie wieder etwas von ihm gehört. Wahrscheinlich war er längst tot, hoffentlich war er das! Ja, man musste verflucht vorsichtig sein, nicht jeder stand so unbeargwohnt da wie dieses alte, stumpf gewordene Arbeitstier Otto Quangel, den nur noch zu interessieren schien, ob sie auch ihr Tagesquantum Särge schafften. Ja, Särge! Von den Bombenkisten waren sie zu Särgen hinabgesunken, elenden Dingern aus billigstem, dünnstem Ausschussholz, braunschwarz angeschmiert. Sie stellten Tausende und Zehntausende von diesen Särgen her, Güterzüge, einen Bahnhof voll von Güterzügen, viele Bahnhöfe voll!
Quangel, seinen Kopf achtsam nach jeder Maschine gereckt, dachte oft an all die vielen Leben, die in diesen Särgen zu Grabe getragen werden würden, hingemordetes Leben, nutzlos hingemordetes Leben, sei es nun, dass diese Särge für die Opfer der Bombenangriffe bestimmt waren, also hauptsächlich für alte Leute, für Mütter und Kinder …, oder sei es wahr, dass diese Särge in die KZs wanderten, jede Woche ein paar tausend Stück, für Männer, die ihre Überzeugung nicht hatten verbergen können oder sie nicht verbergen wollten, jede Woche ein paar tausend Särge in ein einziges KZ. Oder vielleicht traten diese Güterzüge mit Särgen wirklich den weiten Weg an die Fronten an – obwohl Otto Quangel das eigentlich nicht glauben wollte, denn was kümmerten die sich um tote Soldaten! Ein toter Soldat war ihnen nicht mehr wert als ein toter Maulwurf.
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