Er will ihre Beine umklammern, er fasst nach ihren Händen. Sie flieht vor ihm in ihr Schlafzimmer, sie riegelt sich ein. Aber die ganze Nacht hört sie ihn immer wieder gegen die Tür stoßen, die Klinke probieren, wimmern und betteln …
Sie liegt ganz still. Sie sammelt in sich alle Kraft, nicht nachzugeben, sich nicht weich machen zu lassen von ihrem eigenen Herzen und dem Gebettel da draußen! Sie bleibt fest bei ihrem Entschluss, nicht weiter mit ihm zusammenzuleben.
Beim Frühstück sitzen sie einander mit bleichen, übernächtigten Gesichtern gegenüber. Sie sprechen kaum ein Wort miteinander. Sie tun, als ob die Auseinandersetzung nie gewesen wäre.
Aber er weiß jetzt Bescheid, denkt sie, und wenn er sich heute kein Zimmer sucht, morgen Abend muss er mir doch aus dem Haus. Morgen Mittag sage ich es ihm noch einmal. Wir müssen uns trennen!
O ja, Frau Hete Häberle ist eine ebenso mutige wie anständige Frau. Und dass sie ihren Entschluss dann doch nicht durchführt, dass sie den Enno doch nicht von sich stößt, das liegt nicht an ihr, das liegt an Menschen, die sie noch gar nicht kennt. Zum Beispiel an dem Kommissar Escherich und dem Herrn Barkhausen.
1 Die Kommunistische Partei Deutschlands entstand am Jahresende 1918 aus einem Zusammenschluss des Spartakusbundes mit kleineren linksradikalen Gruppen. <<<
28. Emil Barkhausen macht sich nützlich
Während Enno Kluge und Frau Häberle sich zu einer Lebensgemeinschaft vereinten, die so schnell wieder zerbrach, hatte Kommissar Escherich schwere Zeiten hinter sich. Er hatte es verschmäht, seinem Vorgesetzten Prall zu verheimlichen, dass Enno Kluge seinen Beschattern so schnell wieder entronnen und, ohne eine Spur zu hinterlassen, im Meer der Großstadt untergetaucht war.
Kommissar Escherich hatte ergeben all die Beschimpfungen auf sich herabhageln lassen, die infolge dieses Geständnisses fällig waren: er war ein Idiot, er war ein Nichtskönner, man würde ihn einlochen, diese Schlafmütze, die es in fast einem Jahre nicht mal fertiggebracht hatte, einen blöden Postkartenschreiber zu ermitteln!
Und hatte er mal eine Spur, so ließ er den Kerl wieder laufen, Trottel, der er war! Eigentlich hatte Kommissar Escherich Beihilfe zum Hochverrat geleistet, und danach würde man auch mit ihm verfahren, wenn er nicht binnen heute und einer Woche diesen Enno Kluge dem Obergruppenführer Prall vorführte.
Ja, Kommissar Escherich hatte diese Beschimpfungen ergeben angehört. Aber sie hatten eine seltsame Wirkung auf ihn: trotzdem er doch genau wusste, dass dieser Enno Kluge nicht das Geringste mit den Postkarten zu tun hatte, dass er ihm nicht einen Schritt weiter auf dem Wege zur Feststellung des wirklichen Täters helfen konnte, trotzdem konzentrierte sich plötzlich das Interesse des Kommissars fast nur auf die Feststellung des kleinen, bedeutungslosen Enno Kluge. Es war doch auch wirklich zu ärgerlich, dass diese Wanze, mit der er seinen Vorgesetzten so schön hatte hinhalten wollen, ihm durch die Finger geschlüpft war. In dieser Woche war der Klabautermann besonders fleißig gewesen: drei Karten von ihm landeten auf dem Schreibtisch des Kommissars. Aber zum ersten Mal, seit er diese Sache bearbeitete, interessierten Escherich die Karten und der Schreiber überhaupt nicht. Er vergaß sogar, auf seinem Stadtplan von Berlin die Fundstelle mit Fähnchen zu markieren.
Nein, erst einmal wollte er diesen Enno Kluge wiederhaben, und Kommissar Escherich machte wirklich ungewöhnliche Anstrengungen, den Mann zu kriegen. Er fuhr sogar ins Ruppinsche, zu Eva Kluge, für alle Eventualitäten mit einem Haftbefehl gegen sie und gegen ihn ausgerüstet. Aber er sah doch bald, dass diese Frau wirklich nicht das Geringste mehr mit dem Manne zu tun hatte und dass sie sehr wenig von seinem Leben im letzten Jahre wusste.
Was sie wusste, erzählte sie dem Kommissar, nicht besonders bereitwillig und nicht grade widerspenstig, sondern völlig gleichgültig. Dieser Frau war es ersichtlich ganz gleichgültig, was mit dem Mann wurde, was er getan hatte oder nicht getan hatte. Der Kommissar erfuhr von ihr nur die Namen von zwei oder drei Lokalen, in denen Enno Kluge früher verkehrt hatte, er hörte von seiner Wettleidenschaft und erfuhr auch die Adresse einer gewissen Tutti Hebekreuz, von der mal ein Brief in die Wohnung gekommen war. In diesem Brief war Enno Kluge beschuldigt worden, der Hebekreuz Geld und Lebensmittelkarten gestohlen zu haben. Nein, Frau Kluge hatte dem Mann, als sie ihn das letzte Mal sah, weder den Brief ausgehändigt noch zu ihm davon gesprochen. Nur die Adresse hatte sie zufällig behalten, als Briefträgerin hatte sie für Adressen ein besonders gutes Gedächtnis.
Mit diesem Wissen ausgerüstet, war Kommissar Escherich wieder nach Berlin zurückgekehrt. Er hatte natürlich, getreu seinem Grundsatz, Fragen zu stellen, aber keine zu beantworten, kein Wissen weiterzugeben, getreu diesem Grundsatz also hatte Kommissar Escherich sich gehütet, der Frau Eva Kluge eine Andeutung von dem Verfahren zu machen, das gegen sie in Berlin lief. Das ging ihn nichts an. Viel brachte er also nicht mit nach Hause, aber es war doch ein Anfang gemacht, die Spur einer Spur gewissermaßen – und er konnte dem Prall doch zeigen, dass er etwas tat, nicht nur wartete. Darauf kam es den Herren oben doch allein an, dass etwas getan wurde, mochte es auch das Falsche sein, wie ja der ganze Fall Kluge falsch war. Aber Warten vertrugen die Herren nicht.
Die Erkundigungen bei der Hebekreuz verliefen erfolglos. Sie hatte den Kluge in einem Café kennengelernt, sie kannte auch seine Arbeitsstelle. Er hatte zweimal einige Wochen bei ihr logiert, jawohl, das war richtig, sie hatte ihm wegen Geld und Lebensmittelkarten geschrieben. Aber das hatte er bei seinem zweiten Besuch aufgeklärt, die hatte ein anderer Untermieter geklaut, nicht der Enno.
Dann war er wieder abgehauen, ohne ihr was zu sagen, wohl zu irgendeinem Weib, das war so Ennos Art. Nein, sie hatte natürlich nie etwas mit ihm gehabt. Nein, sie hatte keine Ahnung, wohin er gezogen war. Aber hier in dieser Gegend war er bestimmt nicht, sonst hätte sie längst mal von ihm gehört.
In den beiden Kneipen war er bekannt unter dem Namen Enno, jawohl. Er hatte sich lange nicht sehen lassen, nein, aber er kam immer mal wieder. Jawohl, Herr Kommissar, wir lassen uns nichts merken. Wir sind solide Kneipiers, bei uns verkehren nur anständige Leute, die Interesse für den edlen Rennsport haben. Wir werden Ihnen sofort einen Wink geben, wenn er wieder auftaucht. Heil Hitler, Herr Kommissar!
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