Bald ließ sie ihn auch bei der Kundenbedienung helfen. Er wurde gut mit der Kundschaft fertig, er war höflich, schlagfertig, manchmal sogar auf eine etwas schlafmützige Art witzig.
»Mit dem Herrn haben Sie aber einen guten Griff getan, Frau Häberle«, sagten alte Kunden. »Wohl was Verwandtes?«
»Ja, ein Vetter von mir«, log Frau Hete und war glücklich über dies Enno gespendete Lob.
Eines Tages sagte sie zu ihm: »Enno, ich möchte eigentlich heute nach Dahlem fahren. Du weißt doch, die Tierhandlung von Löbe dort macht zu, weil er zur Wehrmacht muss. Ich kann seine Bestände kaufen. Er hat sehr viel zu liegen, es würde eine große Hilfe für uns sein, wo die Ware doch immer knapper wird. Glaubst du, dass du allein mit dem Laden fertig wirst?«
»Aber selbstredend, Hete, selbstredend! So was erledige ich doch spielend. Wie lange willst du denn fortbleiben?«
»Na, ich würde gleich nach dem Mittagessen fahren, aber ich glaube nicht, dass ich bis Ladenschluss zurück sein werde. Ich möchte dann auch gleich bei meiner Schneiderin rangehen …«
»Tu das, Hete. Von mir aus hast du Urlaub bis Mitternacht. Um den Laden hier mach dir keine Sorgen, den erledige ich dir prima.«
Er setzte sie noch in die U-Bahn. Es war Mittagspause, der Laden war geschlossen.
Sie lächelte vor sich hin, als der Wagen schon fuhr. Das Leben zu zweien war doch ein ander Leben! Es war schön, wenn man so gemeinsam arbeitete. Dann erst hatte man abends das richtige Gefühl von Befriedigung. Und er gab sich Mühe, entschieden gab er sich Mühe, es ihr recht zu machen. Er tat, was er konnte. Sicher war er kein energischer oder auch nur fleißiger Mensch, sie gestand es sich ein. Wenn er zu viel hatte laufen müssen, zog er sich gerne einmal in die Stube zurück, der Laden mochte noch so voll stehen, er überließ ihr die Kundschaft allein. Oder sie fand ihn nach langem vergeblichem Rufen im Keller, wie er auf dem Rand der Sandkiste saß und vor sich hin döste; das halb mit Sand gefüllte Eimerchen stand vor ihm – und sie wartete schon zehn Minuten darauf!
Er fuhr zusammen, wenn sie ihn ein wenig scharf anrief: »Enno, wo bleibst du bloß? Ich warte mir die Seele aus dem Leibe!«
Wie ein erschrockener Schuljunge sprang er auf. »Ein bisschen eingedöst«, murmelte er verlegen und fing langsam zu schippen an. »Komme gleich, Frau Chefin, soll auch nicht wieder passieren.«
Mit solchen kleinen Scherzen versuchte er dann, sie zu versöhnen.
Nein, in keiner Hinsicht ein großes Kirchenlicht, dieser Enno, soweit sah sie jetzt schon klar, aber er tat, was er konnte. Und dabei gut zu leiden, höflich, umgänglich, anschmiegsam, ohne ersichtliche Laster. Dass er ein bisschen sehr viel Zigaretten rauchte, das sah sie ihm nach. Sie rauchte selber gerne mal eine, wenn sie abgespannt war …
Mit ihren Besorgungen aber hatte Frau Hete an diesem Tage Pech. Das Geschäft von Löbe in Dahlem war geschlossen, als sie hinkam, man konnte ihr auch nicht sagen, wann Herr Löbe zurückkam. Nein, eingezogen war er noch nicht, aber er hatte jetzt wohl viele Gänge durch seine Einberufung. Vormittags ab zehn Uhr war das Geschäft sonst immer geöffnet gewesen – vielleicht versuchte sie es morgen Vormittag?
Sie dankte und fuhr zu ihrer Schneiderin. Vor dem Hause aber blieb sie erschrocken stehen. In der Nacht war eine Fliegerbombe hineingegangen, das Haus war nur noch eine Ruine. Die Leute gingen eilig daran vorüber, manche mit absichtlich abgewandten Gesichtern, die das Grauen der Zerstörung nicht sehen wollten oder die Angst hatten, ihre Erbitterung nicht verbergen zu können, andere besonders langsam (Polizei sorgte dafür, dass niemand stehen blieb), entweder mit sorglos lächelnden, neugierigen Gesichtern oder mit einem finsteren, fast drohenden Blick die Verwüstung musternd.
Ja, Berlin wurde jetzt öfter in den Keller geschickt, und jetzt fielen auch immer häufiger Bomben und die gefürchteten Phosphorkanister. Immer öfter wurde jetzt auch das Wort Görings zitiert, er wolle Meier heißen, wenn sich ein feindliches Flugzeug über Berlin sehen ließe. In der vergangenen Nacht hatte Frau Hete auch im Keller gesessen, allein, denn sie wollte nicht, dass Enno schon jetzt als ihr offizieller Freund und Hausgenosse gesehen wurde. Sie hatte das Surren der Flieger über sich gehört, dieses nervenzerrüttende Geräusch, wie wenn immer wieder eine Mücke sirrt und surrt. Das Geräusch von Einschlägen hatte sie nicht gehört, ihre Gegend war bisher noch ganz verschont geblieben. Die Leute erzählten ja, die Engländer wollten den Arbeitern nichts tun, sie wollten nur die feinen Familien im Westen erledigen …
Die Schneiderin war kein reicher Mensch gewesen, nun hatte es sie doch getroffen. Frau Hete Häberle suchte von einem Schutzmann zu erfahren, wo die Schneiderin geblieben, ob ihr etwas geschehen sei. Der Schutzmann bedauerte, keine Auskunft geben zu können. Vielleicht ginge die Dame mal aufs Revier, oder sie erkundigte sich auch auf der nächsten Stelle des Luftschutzbundes?
Aber dazu hatte Frau Hete jetzt keine Ruhe. So leid ihr die Schneiderin auch tat und so gerne sie etwas über ihr Ergehen erfahren hätte, es drängte Hete jetzt nach Haus. Immer, wenn man so etwas sah, drängte es einen nach Haus. Sofort musste man sich dort überzeugen, dass auch alles in Ordnung war. Es war töricht, man wusste es, aber man fuhr doch los. Man musste sich erst mit eigenen Augen überführen, dass dort nichts geschehen war.
Aber leider war doch etwas geschehen mit der kleinen Tierhandlung am Königstor. Nichts Tragisches, gewiss nicht, und doch erschütterte es Frau Häberle tief, tiefer als manches Erlebnis in vielen Jahren. Frau Häberle fand den Rollladen vor dem Laden hinuntergelassen, und an ihm war ein Schild festgemacht, ein Schild mit der dummen Inschrift, über die sie sich immer empört hatte: »Komme gleich wieder.« Und darunter: »Frau Hedwig Häberle.«
Dass unter diesem Zettel auch noch ihr Name stand, dass sie mit ihrem guten Namen diese Liederei und Pflichtvergessenheit decken musste, das beleidigte sie fast ebenso tief wie der Vertrauensbruch, den Enno begangen hatte. Hinter ihrem Rücken fortgeschlichen, und hinter ihrem Rücken hätte er auch wieder aufgemacht, hätte ihr kein Wort davon gesagt, dass er sie belogen hatte. Und wie dumm dabei, wie überaus dumm, denn es war doch fast sicher, dass eine ihrer Stammkundinnen sie fragte: »Gestern Nachmittag zugehabt? Unterwegs gewesen, Frau Häberle?«
Sie kommt über den Hausflur in ihre Wohnung. Dann zieht sie den Laden vor ihrer Ladentür hoch, öffnet die Tür. Sie wartet, bis der erste Kunde kommt, nein, sie möchte jetzt gar nicht, dass er kommt. Solch ein Verrat hinter ihrem Rücken – in ihrer ganzen Ehe mit Walter hat es nie so etwas gegeben. Immer hatten sie volles Vertrauen zueinander, und nie hatte eines je das Vertrauen des anderen getäuscht. Und nun dies! Sie hatte ihm doch nicht die geringste Veranlassung gegeben!
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