Die erste Kundin kommt, sie wird von ihr bedient; aber als Hete ihr auf einen Zwanzigmarkschein herausgeben will und die Ladenkasse aufzieht, ist die leer. Es war reichlich Wechselgeld in der Kasse, als sie fortging, an die hundert Mark. Und nun ist die Kasse leer. Sie bezwingt sich, sie holt aus ihrer Handtasche Geld, gibt heraus, fertig! Die Ladentür bimmelt.
Ja, jetzt möchte sie den Laden zuschließen und ganz mit sich allein sein. Ihr fällt ein – während sie immer weiter Kundschaft abfertigt –, dass es ihr in den letzten Tagen schon ein paarmal so vorgekommen war, als könne die Kasse nicht ganz stimmen, als müsse die Tageslosung höher sein. Damals hat sie solche Gedanken unmutig verjagt. Was sollte Enno auch mit dem Gelde anfangen? Er kam ja gar nicht aus dem Hause, war immer unter ihren Augen!
Aber jetzt denkt sie daran, dass die Toilette auf der halben Treppe liegt und dass er viel mehr Zigaretten geraucht hat, als er in seinem Köfferchen mitgebracht haben kann. Sicher hat er jemanden im Hause gefunden, der ihm Zigaretten holt, schwarz gekaufte, ohne Karte, hinter ihrem Rücken! Wie schmählich und gemein! Sie hätte ihn liebend gerne mit Zigaretten versorgt, er hätte nur den Mund auftun müssen!
In diesen anderthalb Stunden bis zum Wiederauftauchen Ennos kämpft Frau Häberle einen schweren Kampf mit sich. In den letzten Tagen hat sie sich daran gewöhnt, dass wieder ein Mann im Hause ist, dass sie nicht mehr allein ist, sondern für jemanden zu sorgen hat, für jemanden, den sie gerne hat. Aber wenn der Mann so ist, wie es jetzt den Anschein hat, so muss sie die Liebe ausreißen aus ihrem Herzen! Besser allein sein, als in solch ewigem Misstrauen und in solcher grauenvollen Angst leben! Sie kann ja nicht mehr um die Ecke in den Grünkram gehen, schon muss sie Angst haben, er betrügt sie wieder!
Und dann fällt Hete ein, dass es ihr auch so vorgekommen ist, als lägen die Sachen nicht ganz richtig in ihrem Wäschespind. Nein, es muss sein, sie muss ihn fortschicken, heute noch, so schwer es ihr auch fällt. Später würde es noch schwerer sein.
Aber dann denkt sie daran, dass sie eine alternde Frau ist, dass dies vielleicht ihre letzte Gelegenheit ist, einem einsamen Lebensabend zu entgehen. Nach diesem Erlebnis mit Enno Kluge wird sie sich kaum noch entschließen, mit einem anderen Manne es aufs Neue zu versuchen. Nach diesem erschreckenden, zerschmetternden Erlebnis mit Enno!
»Ja, Mehlwürmer sind wieder da. Wie viel darf es denn sein, meine Dame?«
Eine halbe Stunde vor Ladenschluss kommt Enno. Es ist für ihren Gefühlszustand bezeichnend, dass sie erst jetzt daran denkt, dass er sich ja gar nicht auf der Straße sehen lassen soll, in solcher Gefahr, wie er durch die Gestapo war! Bisher hat sie daran gar nicht denken können, so sehr war sie mit dem Verrat beschäftigt, den er an ihr begangen. Aber was helfen denn alle Vorsichtsmaßregeln, wenn er in ihrer Abwesenheit einfach losläuft? Und vielleicht ist all das mit der Gestapo auch Lug und Trug? Bei diesem Manne ist alles möglich!
Er hat natürlich schon an dem hochgezogenen Rollladen gemerkt, dass sie wieder im Laden ist. Er kommt von der Straße herein, vorsichtig und behutsam schlängelt er sich durch die Kunden, lächelt ihr zu, als sei nicht das Geringste vorgefallen, und sagt, in der Stube verschwindend: »Ich komme gleich und helfe, Chefin!«
Und er kommt wirklich sehr schnell zurück, und notgedrungen, um vor der Kundschaft das Ansehen zu bewahren, muss sie mit ihm sprechen, ihm Anweisungen geben, tun, als sei nichts geschehen – und doch ist ihre Welt eingestürzt! Aber sie lässt sich nichts merken, sie geht sogar auf seine schwachen Witzchen ein, die er heute besonders reichlich bereithält, und nur, als er an die Ladenkasse will, sagt sie scharf: »Bitte, die Kasse besorge ich!«
Er ist etwas zusammengefahren, mit einem scheuen Blick sieht er sie von der Seite an – wie ein Hund, der geschlagen wird, ja, genau wie ein verprügelter Hund, denkt sie. Dann hat sich seine Hand in die Tasche getastet, ein Lächeln ist auf sein Gesicht getreten, jawohl, er hat den Schlag schon wieder verwunden.
»Zu Befehl, Chefin!«, schnarrt er und knallt die Absätze zusammen.
Die Kunden lachen über den kleinen, komischen Mann, der da Soldat spielen will, aber ihr ist nicht zum Lachen zumute.
Dann ist der Laden geschlossen. Fünf viertel Stunden arbeiten sie noch eifrig miteinander, ganz mit Füttern und Tränken und Säubern beschäftigt, beide schließlich fast wortlos, nachdem sie auf seine Scherze, die er immer wieder versuchte, nicht eingegangen war.
Frau Hete steht in der Küche, sie macht das Abendessen zurecht. Sie hat Bratkartoffeln in der Pfanne, richtige, schöne Bratkartoffeln, mit Speck angebraten. Den Speck hat sie von einer Kundin im Austausch gegen einen Harzer Roller bekommen. Sie hat sich darauf gefreut, ihn mit einem so schönen Abendessen überraschen zu können, denn er isst gerne was Gutes. Die Kartoffeln werden schön goldgelb.
Aber plötzlich löscht sie die Gasflamme unter der Pfanne. Plötzlich kann sie auf diese Aussprache nicht mehr warten. Sie geht in die Stube, lehnt sich mit dem Rücken, dunkel und massig, gegen den Ofen und fragt in einem fast drohenden Tone: »Nun?«
Er hat am Tisch gesessen, dem Abendbrottisch, den er für sie beide gedeckt hatte, vor sich hin flötend, nach seiner Gewohnheit.
Bei diesem drohenden »Nun?« fährt er zusammen, er steht auf und sieht zu der dunklen Gestalt hinüber.
»Ja, Hete?«, sagt er. »Gibt’s bald Abendessen? Ich hab mächtigen Kohldampf.«
Sie möchte ihn vor Wut schlagen, diesen Mann, der glaubt, sie ist bereit, einen solchen Verrat totzuschweigen! Der fühlt sich ja schon sehr sicher, dieser Herr, weil er mit ihr in einem Bett geschlafen hat! Sie ist von einem ganz ungewohnten Zorn erfasst, am liebsten würde sie den Kerl schütteln und schlagen, noch einmal und noch einmal.
Aber sie bezwingt sich und wiederholt nur noch einmal ihr »Nun?«, nur noch drohender.
»Ach so!«, sagt er. »Du meinst das mit dem Geld, Hete.« Er greift in die Tasche und zieht einen Haufen Scheine hervor. »Da, Hete, das sind 210 Mark, und ich hatte 92 Mark aus der Kasse genommen.« Er lacht ein bisschen verlegen. »Damit ich doch auch etwas zur Wirtschaft beisteuere!«
»Und wie kommst du zu dem vielen Geld?«
»Heute Nachmittag war das große Traberrennen in Karlshorst. Ich bin grade noch rechtzeitig gekommen, um Adebar zu setzen. Adebar, Sieg. Ich wett nämlich gerne auf Pferde. Ich verstehe ziemlich viel von Rennen, Hete.« Er sagt das mit einem bei ihm ganz ungewohnten Stolz. »Nicht die ganzen 92, nur 50 Mark habe ich gesetzt. Die Quote war …«
»Und was hättest du getan, wenn das Pferd nicht gewonnen hätte?«
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