Der Kommissar klappte das Bett von der Wand und setzte sich darauf. »Na, Herr Kluge«, sagte er und sah aufmerksam in das blasse Gesicht mit dem schwachen Kinn, dem merkwürdig dicklippigen roten Mund und den hellen Augen, die ständig zwinkerten. »Na, Herr Kluge, und nun erzählen Sie mal, was Sie auf dem Herzen haben. Ich bin der Kommissar Escherich von der Geheimen Staatspolizei.« Er fuhr sanft zuredend fort, als er den anderen schon bei der Nennung der Geheimen Staatspolizei ängstlich zurückzucken sah: »Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir fressen keine kleinen Kinder. Und Sie sind doch bloß ein kleines Kind, das sehe ich doch …«
Bei dem Hauch von Anteilnahme, der aus diesen Worten vernehmlich wurde, füllten sich Kluges Augen sofort wieder mit Tränen, sein Gesicht zuckte, die Backenmuskeln arbeiteten krampfhaft.
»Na, na!«, sagte Escherich und legte seine Hand auf die des kleinen Mannes. »So schlimm wird’s ja nicht sein. Oder ist es so schlimm?«
»Es ist alles verloren!«, rief Enno Kluge verzweifelt. »Ich bin ja doch hin! Ich hab keinen Krankenschein, und ich müsste zur Arbeit. Und hier sitze ich fest, und da schicken die mich ins KZ, da gehe ich gleich hops, das halte ich keine vierzehn Tage aus!«
»Nu, nu!«, sagte der Kommissar wieder wie zu einem Kind. »Das mit Ihrer Fabrik, das wird sich ja regeln lassen. Wenn wir jemand festhalten und es stellt sich heraus, es ist ein ordentlicher Mann, so sorgen wir auch dafür, dass er keinen Schaden von dem Festhalten hat. Sie sind doch ein ordentlicher Kerl, Herr Kluge – was?«
Wieder arbeitete es in Kluges Gesicht, dann entschloss er sich diesem sympathischen Mann gegenüber zu einem Teilgeständnis. »Ich arbeite denen ja nicht genug!«
»Na, und was meinen Sie selbst, Herr Kluge? Arbeiten Sie Ihrer Ansicht nach genug – oder?«
Wieder überlegte Kluge. »Ich bin doch so viel krank«, sagte er schließlich kläglich. »Aber die sagen nur, jetzt ist keine Zeit zum Kranksein.«
»Sie sind doch nicht immer krank? Nun, und wenn Sie nun nicht krank sind und arbeiten – tun Sie dann genug? Wie denken Sie darüber, Herr Kluge?«
Wieder entschloss sich Kluge. »Ach Gott, Herr Kommissar«, klagte er an, »die Weiber laufen mir doch so nach!«
Es klang ebenso kläglich wie eitel.
Der Kommissar schüttelte bedauernd mit dem Kopf hin und her, als sei das freilich schlimm.
»Das ist nicht gut, Herr Kluge«, meinte er dann. »In unsern Jahren lässt man ja nicht gerne was aus, nicht wahr?«
Kluge sah ihn nur mit einem schwachen Lächeln an, froh, bei diesem Mann Verständnis gefunden zu haben.
»Ja«, sagte der Kommissar. »Und wie steht’s da mit der Kasse?«
»Ich wett manchmal ein bisschen«, gestand Kluge. »Nicht viel und nicht hoch, Herr Kommissar. Nie mehr als höchstens mal fünf Mark, wenn ein Tipp ganz sicher ist, das schwöre ich Ihnen, Herr Kommissar!«
»Und wovon bezahlen Sie das, Herr Kluge, die Weiber und die Wetten? Wenn Sie doch nicht viel arbeiten?«
»Aber die Weiber bezahlen doch mich, Herr Kommissar!«, sagte Kluge, fast ein wenig gekränkt über so viel Unverstand. Er lächelte eitel. »Weil ich doch so tüchtig bin!«, setzte er hinzu.
In diesem Augenblick legte der Kommissar Escherich die Beschuldigung, dieser Enno Kluge habe auch nur das Geringste mit der Abfassung oder Verbreitung der Karten zu tun, endgültig zu den Akten. Dieser Kluge war zu so was einfach nicht imstande, alle Voraussetzungen fehlten ihm dafür. Aber befragen musste er ihn deswegen doch, denn er musste ja ein Protokoll anfertigen über dieses Verhör, ein Protokoll für die Herren Vorgesetzten, damit die erst mal Ruhe hielten, ein Protokoll, das den Kluge weiter unter Verdacht hielt, Schritte gegen ihn begründete …
So zog er denn die Karte aus der Tasche, legte sie vor Kluge hin und sagte ganz gleichgültig: »Sie kennen diese Karte, Herr Kluge?«
»Ja«, sagte Enno Kluge erst ganz gedankenlos, aber zusammenschreckend verbesserte er sich: »Das heißt natürlich, nein. Ich habe sie vorhin vorlesen müssen, den Anfang, heißt das. Sonst kenn ich die Karte nicht! Heilig wahr, Herr Kommissar!«
»Na, na!«, tat Escherich zweiflerisch. »Herr Kluge, wo wir über so ’ne große Sache wie über Ihre Arbeiterei und das KZ klargeworden sind, wo ich selbst zu Ihren Herren hingehen und die Sache für Sie ordnen werde, da werden wir uns doch über so ’ne kleine Sache wie diese Karte einig werden!«
»Ich hab nichts damit zu tun, gar nichts, Herr Kommissar!«
»Ich geh ja nicht so weit, Herr Kluge«, sagte der Kommissar, ungerührt von diesen Beteuerungen, »ich geh ja nicht so weit wie mein Kollege, der Sie für den Kartenschreiber hält und der Sie durchaus vor den Volksgerichtshof schleppen will, und dann: Rübe ab, Herr Kluge!«
Der kleine Mann erzitterte, und sein Gesicht wurde aschfahl.
»Nein«, sagte der Kommissar beruhigend und legte seine Hand wieder auf die des anderen. »Nein, für den Kartenschreiber halte ich Sie nicht. Aber, dass die Karte da auf dem Flur des Arztes lag, und Sie haben sich doch verdächtig viel auf dem Flur zu schaffen gemacht, und dann Ihre Unruhe, Ihr Weglaufen. Und für alles sind gute Zeugen da – nein, Herr Kluge, es ist schon besser, Sie sagen mir die Wahrheit. Ich möchte doch nicht, dass Sie sich selbst ins Unglück stürzen!«
»Die Karte muss von außen reingesteckt sein, Herr Kommissar. Ich habe mit ihr nichts zu schaffen, heilig wahr, Herr Kommissar!«
»Kann ja gar nicht von außen reingesteckt sein, so wie die gelegen hat! Und fünf Minuten vorher ist sie noch nicht dagewesen, das wird das Fräulein vom Arzt beschwören. In der Zwischenzeit waren Sie aber auf der Toilette. Oder wollen Sie behaupten, es war noch jemand anders aus dem Wartezimmer auf dem Klo?«
»Nein, glaube ich nicht, Herr Kommissar. Nein, bestimmt nicht. Wenn’s um fünf Minuten geht, dann bestimmt nicht. Ich wollte nämlich schon eine ganze Weile rauchen, und darum habe ich aufgepasst, ob einer auf die Toilette ging.«
»Na also!«, sagte der Kommissar, anscheinend sehr befriedigt, »da sagen Sie es ja selbst: Nur Sie, nur Sie allein können die Karte auf den Flur gelegt haben!«
Kluge starrte ihn mit weit aufgerissenen, jetzt wieder völlig erschreckten Augen an.
»Nachdem Sie das also eingestanden haben …«
»Ich habe nichts eingestanden, nichts! Ich habe nur gesagt, in den letzten fünf Minuten ist niemand vor mir auf dem Klo gewesen!«
Kluge schrie das fast.
»Aber, aber!«, sagte der Kommissar und schüttelte missbilligend den Kopf. »Sie werden doch ein eben abgelegtes Geständnis nicht gleich widerrufen wollen, dafür sind Sie doch ein viel zu vernünftiger Mann. Ich müsste den Widerruf auch ins Protokoll nehmen, Herr Kluge, und so was sieht nie hübsch aus.«
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