»Nein, nein!«, versichert Enno Kluge verzweifelt, und schon rollen die Tränen über sein Gesicht.
»Würde ich dir auch geraten haben! Das nächste Mal knallt’s, und ich kann schießen, Sohn!« Der Assistent bleibt dabei, den wohl zwanzig Jahre älteren Kluge mit »Sohn« anzureden. »Na, weine man bloß nicht so! So schlimm wird’s ja gar nicht gewesen sein, was du ausgefressen hast. Oder?«
»Gar nichts habe ich ausgefressen!«, stößt Enno Kluge unter Tränen hervor. »Rein gar nichts!«
»Aber natürlich, Sohn!«, stimmt der Assistent zu. »Darum rennst du ja auch so schnell wie ein Hase, sobald du die Uniform von einem Wachtmeister siehst! Doktor, haben Sie nicht irgendwas, womit Sie diesem Jammergestell wieder ein bisschen auf die Beine helfen können?«
Jetzt, da der Arzt fühlt, alle Gefahr ist von seinem eigenen Haupt abgewendet, sieht er mit herzlichem Mitleid auf dieses unglückselige Männlein. Auch so ein Geschlagener des Lebens ist das, den jedes Hindernis umwirft. Der Doktor ist in der Versuchung, dem Kleinen auch eine Spritze Morphium zu bewilligen, in leichtester Dosierung. Er wagt es aber nicht recht wegen des Kriminalbeamten. Lieber ein bisschen Brom …
Aber während er das Bromsalz noch im Wasser auflöst, sagt Enno Kluge: »Ich brauch nichts. Ich will nichts einnehmen. Ich lasse mich nicht vergiften. Ich will lieber aussagen …«
»Na also!«, sagt der Kriminalbeamte. »Wusste ich doch, dass du vernünftig werden würdest, Sohn! Dann erzähle also mal …«
Und Enno Kluge wischt sich die Tränen von den Backen und fängt an zu erzählen …
Als er nämlich mit Weinen anfing, hat er ganz echte Tränen geweint, einfach weil ihn seine Nerven im Stich ließen. Wenn es aber auch ganz echte Tränen waren, so weiß Enno doch längst aus seinem Umgang mit den Frauen, dass man beim Weinen sehr gut nachdenken kann. Und bei diesem Nachdenken ist er darauf gekommen, dass es doch eigentlich sehr unwahrscheinlich ist, dass die ihn aus dem Sprechzimmer eines Arztes heraus wegen Einbruchs verhaften. Wenn die ihn wirklich beschattet haben, dann konnten sie ihn auch auf der Straße oder im Treppenflur verhaften, da brauchten sie ihn doch nicht erst zwei Stunden im Wartezimmer sitzen zu lassen …
Nein, diese Sache hat wahrscheinlich nicht das Geringste mit dem Einbruch bei der Frau Rosenthal zu tun. Wahrscheinlich liegt der Verhaftung ein Irrtum zugrunde, und dunkel ahnt Enno Kluge, dass sie irgendwas mit der bösartigen Sprechstundenhilfe zu tun hat.
Aber nun ist er einmal getürmt, und nie wird er so einem Bullen einreden können, dass er nur aus Nervosität weggelaufen ist, einfach, weil er jede Besinnung beim Anblick einer Uniform verliert. So was nimmt ihm solch ein Bulle nie ab. Er muss also schon was Glaubhaftes, Nachzuprüfendes gestehen, und was das sein soll, das weiß er auch gleich. Es ist zwar schlimm, darüber zu sprechen, und die Folgen sind nicht abzusehen, aber von zwei Übeln ist solch ein Geständnis gewiss das kleinere.
Als er also jetzt zum Reden aufgefordert ist, trocknet er sich die Tränen ab und beginnt mit leidlich fester Stimme von seiner Arbeit als Feinmechaniker zu sprechen, und wie er so viel krank gewesen ist, dass die Herren dort böse auf ihn geworden sind, und nun wollen sie ihn entweder ins KZ oder in eine Strafkompanie stecken. Natürlich erzählt Enno Kluge nichts von seiner Arbeitsscheu, aber er denkt, das wird der Bulle auch so kapieren.
Und damit hat er sogar recht, der Bulle kapiert das ganz gut, was für ein windiges Früchtchen dieser Enno Kluge ist. »Ja, Herr Kommissar, und wie ich Sie da sah und die Uniform von dem Herrn Wachtmeister, und ich saß doch grade beim Doktor, um mich krankschreiben zu lassen, da habe ich gedacht, nun ist es so weit, nun holen sie dich ins KZ, und da bin ich denn losgelaufen …«
»Soso«, sagt der Assistent. »Soso!« Er überlegt eine Weile und sagt dann: »Aber es scheint mir, Sohn, dass du gar nicht mehr so recht glaubst, dass wir deswegen hier sind.«
»Nein, eigentlich nicht«, gibt Kluge zu.
»Und warum glaubst du das nicht mehr, Sohn?«
»Weil Sie mich da doch viel einfacher in der Fabrik oder in meiner Wohnung festnehmen könnten.«
»Also, ’ne Wohnung hast du auch, Sohn?«
»Aber natürlich, Herr Kommissar. Meine Frau ist doch bei der Post, ich bin richtig verheiratet. Meine beiden Jungen stehen im Felde, der eine ist bei der SS in Polen. Ich habe auch Papiere hier, ich kann Ihnen alles beweisen, was ich gesagt habe, wegen der Wohnung und wegen meiner Arbeitsstelle.«
Und Enno Kluge zieht sein schäbiges, abgegriffenes Brieftäschchen hervor und fängt an, Papiere vorzusuchen.
»Deine Papiere lass jetzt mal stecken, Sohn«, sagt der Assistent abweisend. »Das hat später auch noch Zeit …«
Er versinkt in Nachdenken, und alles schweigt nun.
Der Arzt aber hinter seinem Schreibtisch fängt eilig an zu schreiben. Vielleicht hat er doch Gelegenheit, diesem kleinen Männlein da, das von einer Angst in die andere gejagt wird, einen Krankenschein zuzustecken. Gallenleiden hat er gesagt, nun also. Das sind doch Zeiten, wo man dem anderen helfen muss, wenn’s nur irgend geht!
»Was schreiben Sie denn da, Doktor?«, fragt der Assistent, plötzlich aus seinem Nachdenken hochfahrend.
»Krankengeschichten«, erklärt der Arzt. »Ich will die Zeit ein bisschen nutzbringend verwenden, ein Haufen Menschen sitzt da noch in meinem Sprechzimmer.«
»Richtig, Doktor«, sagt der Assistent und steht auf. Er hat seinen Entschluss gefasst: »Da wollen wir Sie auch nicht länger aufhalten.«
Die Geschichte dieses Enno Kluge kann wahr sein, sie ist sogar höchstwahrscheinlich wahr, aber der Assistent wird das Gefühl nicht los, dass da noch irgendetwas anderes dahintersteckt, dass er nicht die ganze Geschichte zu hören bekommen hat. »Na, denn komm, mein Sohn! Du begleitest uns doch noch ein paar Schritte? O nein, nicht bis zum Alex, nur hierher auf unser Revier. Ich will mich doch gerne noch ein bisschen mit dir unterhalten, mein Sohn, so ein munterer Knabe wie du bist, und den Onkel Doktor dürfen wir hier auch nicht länger aufhalten.« Er sagt zum Wachtmeister: »Nein, keine Fessel. Er geht schon so fein brav mit, ist ja ein kluges Kind. Heil Hitler, Herr Doktor, und schönen Dank!«
Sie sind schon an der Tür, es sieht alles genauso aus, als wollten sie wirklich gehen. Aber da zieht der Assistent plötzlich die Karte, die Quangel’sche Karte, aus der Tasche, hält sie dem Enno Kluge unter die Nase und sagt zu dem Überraschten ganz scharf: »Da, lies uns das mal vor, Sohn! Aber ganz schnell, ohne zu zucken und zu stottern!«
So sagt er ganz bullenmäßig.
Aber schon, als der Assistent sieht, wie der Kluge die Karte anfasst, wie sein glotzendes Auge immer verständnisloser wird, wie Kluge dann zu stammeln anfängt: »Deutscher, vergiss es nicht! Mit dem Anschluss von Österreich fing es an. Es folgte Sudetenland und die Tschechoslowakei. Polen wurde überfallen, Belgien, Holland« – schon da weiß der Assistent mit ziemlicher Gewissheit: Dieser Mann hat die Karte noch nie in Händen gehabt, hat nie ihren Inhalt gelesen, geschweige denn ihn schreiben können – der ist ja viel zu blöd für so was!
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