Sie unterbricht die Konsultation, sie erreicht, dass der halbausgezogene Patient in ein Nebenzimmer geschickt wird, dann gibt sie dem Arzt die Karte zu lesen. Sie kann es kaum abwarten, dass er zu Ende gelesen hat, und schon berichtet sie von ihrem Verdacht: »Es kann wirklich kein anderer gewesen sein als dieser kleine Schleicher! Gleich war er mir unsympathisch mit seinem scheuen Blick! Und das verkörperte schlechte Gewissen, nicht einen Augenblick hat er sich ruhig halten können, immer auf den Flur raus, zweimal hab ich ihn von der Toilette gejagt! Und wie ich das zum zweiten Mal tat, da hat hinterher die Karte auf dem Flur gelegen! Von außen kann sie gar nicht eingeworfen sein, dafür hat sie viel zu weit ab vom Briefkastenschlitz gelegen! Herr Doktor, rufen Sie gleich die Polizei an, ehe der Kerl wegschleicht! O Gott, er kann jetzt schon weg sein, ich muss gleich einmal nachsehen …«
Damit stürzt sie aus dem Behandlungszimmer, die Tür hinter sich weit offenlassend.
Der Arzt steht da, die Karte noch immer in der Hand. Es ist ihm äußerst peinlich, dass so was grade in seiner Sprechstunde passieren muss! Gottlob, dass die Hilfe die Karte fand und dass er nachweisen kann, dass er seit zwei Stunden sein Zimmer nicht verlassen hat, nicht einmal auf der Toilette ist er gewesen. Das Mädchen hat recht, das Beste ist, gleich die Polizei anzurufen. Er fängt an, im Telefonbuch nach der Nummer seines Reviers zu suchen.
Das Mädchen sieht durch die offen gebliebene Tür. »Er ist noch da, Herr Doktor!«, flüstert sie. »Er denkt natürlich, so kann er den Verdacht von sich ablenken. Aber ich bin ganz sicher …«
»Es ist gut«, unterbricht der Arzt die Aufgeregte. »Machen Sie bitte die Tür zu. Ich spreche jetzt mit der Polizei.«
Er erstattet seine Meldung, bekommt die Weisung, den Mann unbedingt festzuhalten, bis jemand vom Revier kommt, gibt diese Weisung an die Hilfe weiter, sagt ihr, sie solle ihn sofort rufen, wenn der Mann Anstalten macht zu gehen, und setzt sich wieder in seinen Schreibtischstuhl. Nein, die Behandlungen kann er jetzt nicht fortsetzen, er ist zu erregt. Dass gerade ihm so was passieren musste, warum nur gerade ihm? Ein gewissenloser Kerl, dieser Kartenschreiber, er brachte die Leute in die größte Bedrängnis! Dachte er gar nicht an die Schwierigkeiten, die er ihnen mit seiner verdammten Karte machte?
Wahrhaftig, diese Karte hatte grade noch zum Glück des Arztes gefehlt! Jetzt war Polizei zu ihm unterwegs, vielleicht geriet er doch in Verdacht, man machte eine Haussuchung, und wenn sich dann auch erwies, dass der Verdacht falsch war, so fand man hinten in der Dienstbotenkammer …
Der Arzt stand auf, er musste ihr wenigstens Bescheid sagen …
Und setzte sich wieder. Wie konnte er denn in Verdacht geraten? Und außerdem, selbst wenn man sie fand, so war sie eben seine Hausdame, wie es ja auch ihre Papiere aussagten. All das war ja hundertfach bedacht und besprochen worden, seit er sich vor gut einem Jahr von seiner Frau, einer Jüdin, hatte scheiden lassen müssen – unter dem Druck der Nazis. Er hatte es getan, hauptsächlich auf ihre Bitten hin, um den Kindern wenigstens eine Existenz zu sichern. Später hatte er dann, nachdem er die Wohnung gewechselt, seine ehemalige Frau mit falschen Papieren als seine Hausdame zurückgeholt. Eigentlich konnte gar nichts passieren, so jüdisch sah sie gar nicht aus …
Diese unselige Karte! Dass sie grade auf ihn treffen musste! Aber wahrscheinlich war es so, dass sie überall, wohin sie auch kam, Schrecken und Angst erregte. Jeder hatte in diesen Zeiten etwas zu verbergen!
Aber vielleicht war es grade der Zweck dieser Karte, Angst und Schrecken zu erregen? Vielleicht wurde diese Karte mit teuflischem Vorbedacht unter den Verdächtigen verteilt, um festzustellen, wie sich die verhielten? Vielleicht stand er schon länger unter Beobachtung, und dies war nur eines der Mittel, um festzustellen, ob der Verdächtige sich keine Blöße gab?
Nun, er hatte sich jedenfalls korrekt benommen. Fünf Minuten nach Auffinden der Karte hatte er die Polizei verständigt. Und er konnte ihr sogar einen Verdächtigen präsentieren, vielleicht einen armen Teufel, der gar nichts mit der Sache zu tun hatte. Nun, er konnte da nicht helfen, sollte der selber sehen, wie er aus der Geschichte herauskam! Die Hauptsache war, er blieb verschont.
Und obwohl diese Erwägungen den Arzt ruhiger gemacht haben, steht er auf und macht sich rasch und sicher eine kleine Morphiumspritze. Die wird ihn instandsetzen, diesen Herren, die da zu ihm im Anmarsch sind, ruhig und sogar ein bisschen gelangweilt zu begegnen. Diese kleine Spritze ist das Hilfsmittel, zu dem der Arzt seit der Schande seiner Scheidung, wie er diesen Schritt innerlich noch immer nennt, häufiger und häufiger seine Zuflucht nimmt. Er ist noch kein Morphinist, weit entfernt, er kommt manchmal fünf, sechs Tage ohne Morphium aus, aber wenn Schwierigkeiten auf seinem Lebensweg auftauchen, und diese Schwierigkeiten häufen sich jetzt während des Krieges immer mehr, so nimmt er Morphium. Das allein hilft ihm noch, ohne diese künstliche Hilfe verliert er seine Nerven. Nein, noch ist er kein Morphinist! Aber er ist auf dem besten Wege, einer zu werden. Ach, wenn nur erst dieser Krieg vorbei wäre, dass man aus diesem elenden Lande hinauskönnte! Mit dem kleinsten Hilfsarztposten draußen im Auslande würde er zufrieden sein.
Einige Minuten darauf empfängt ein blasser, etwas müder Arzt die beiden Herren von der Polizeiwache. Der eine ist nur ein uniformierter Wachtmeister, zur Aufsicht über die Flurtür hierherkommandiert. Er löst sofort die Sprechstundenhilfe ab.
Der andere ist ein Zivilist, Kriminalassistent Schröder – in seinem Behandlungszimmer übergibt ihm der Arzt die Karte. Was er aussagen könne? Nun, er kann eigentlich nichts aussagen, er habe seit über zwei Stunden hier schon ohne Unterbrechung Patienten abgefertigt, etwa zwanzig oder fünfundzwanzig hintereinander. Aber er werde sofort die Sprechstundenhilfe holen.
Die Hilfe kommt, und sie hat viel auszusagen. Sehr viel. Sie schildert diesen Schleicher, wie sie ihn nur nennt, mit einem Hass, der zwei harmlosen Rauchereien auf der Toilette gegenüber völlig unbegreiflich ist. Der Arzt beobachtet sie genau, wie sie da erregt, mit oft versagender Stimme aussagt. Er denkt: Ich muss jetzt mal sehen, dass sie wirklich was Ernstliches gegen ihren Basedow unternimmt. Es wird immer schlimmer mit ihr. So erregt, wie sie jetzt spricht, ist sie eigentlich schon nicht mehr voll zurechnungsfähig.
Der Kriminalassistent scheint Ähnliches zu denken. Mit einem kurzen »Danke! Ich weiß jetzt vorläufig genug«, unterbricht er ihre Aussagen. »Zeigen Sie mir jetzt noch, Fräulein, wo die Karte auf dem Flur gelegen hat. Aber bitte möglichst genau!«
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