Das Fräulein, die Hilfe, legt die Karte auf eine Stelle, die sie vom Briefkastenschlitz, wie es scheint, unmöglich erreichen kann. Aber der Assistent probiert, vom Wachtmeister unterstützt, so lange das Einwerfen der Karte, bis sie nahezu auf dem von der Hilfe bezeichneten Platz zu liegen kommt. Nahezu, etwa zehn Zentimeter fehlen …
»Da könnte sie doch auch gelegen haben, Fräulein?«, fragt der Assistent.
Die Sprechstundenhilfe ist sichtlich entrüstet, dass dem Assistenten dies Experiment geglückt ist. Sie erklärt mit Entschiedenheit: »Nein, so nah an der Tür kann die Karte unmöglich gelegen haben! Eher noch weiter in den Flur hinein, als ich vorhin zeigte. Ich glaube jetzt, sie lag hier direkt bei dem Stuhl.« Und sie zeigt einen Fleck, der noch einen halben Meter weiter vom Einwurf entfernt liegt. »Ich bin fast sicher, dass ich gegen diesen Stuhl beim Aufheben gestoßen habe.«
»Soso«, sagt der Assistent und mustert kühl die Zornige. Im Innern macht er einen Strich durch alle ihre Aussagen. Die ist ja hysterisch, denkt er. Der fehlt natürlich ein Mann. Na ja, wo alle im Felde sind, und sehr verlockend sieht sie auch nicht aus.
Er wendet sich laut an den Arzt: »Ich möchte jetzt wie ein beliebiger Patient drei Minuten im Wartezimmer sitzen und mir den beschuldigten Herrn erst einmal so ansehen, ohne dass er weiß, wer ich bin. Das lässt sich doch machen?«
»Natürlich lässt sich das machen. Fräulein Kiesow wird Ihnen sagen, wo er sitzt.«
»Steht!«, erklärt die Hilfe ärgerlich. »So einer setzt sich doch nicht! Der tritt lieber den anderen auf den Füßen herum! Dem lässt sein schlechtes Gewissen doch keine Ruhe! Dieser Schleicher …«
»Also, wo steht er«, unterbricht sie der Assistent wieder und nicht sehr höflich.
»Vorhin stand er beim Spiegel am Fenster«, antwortet sie ihm gekränkt. »Aber ich kann natürlich nicht sagen, wo er jetzt steht, so unruhig, wie der ist!«
»Ich werde ihn schon finden«, meint der Assistent Schröder. »Sie haben ihn mir ja beschrieben.«
Und er geht ins Wartezimmer.
Dort herrscht einige Erregung. Seit über zwanzig Minuten ist kein Patient zum Arzt gerufen worden – wie lange sollen sie hier noch sitzen? Sie haben wahrhaftig anderes zu tun! Wahrscheinlich fertigt der Doktor vorne gut zahlende Privatpatienten ab, und die Kassenpatienten hier können sitzen, bis sie schwarz werden! Aber so machen es doch alle diese Ärzte, mein lieber Herr, da können Sie hingehen, wo Sie wollen! Überall hat das Geld den Vortritt!
Während die Berichte über die Käuflichkeit der Ärzte immer höhere Wellen schlagen, mustert der Assistent schweigend seinen Mann. Er hat ihn sofort erkannt. Der Mann ist weder so unruhig noch so schleicherisch, wie ihn die Hilfe geschildert hat. Er steht da ganz ruhig an seinem Spiegel, an der Unterhaltung der anderen beteiligt er sich nicht. Er scheint nicht einmal auf das zu hören, was die sagen, und das tut man sonst doch gerne, eine langweilige Wartezeit sich zu verkürzen. Er schaut ein bisschen stumpfsinnig und ein bisschen ängstlich darein. Kleiner Arbeiter, entscheidet der Assistent. Nee, ein bisschen besser, die Hände sehen geschickt aus, Arbeitsspuren, aber nicht nach schwerer Arbeit … Anzug und Mantel mit großer Sorgfalt instandgehalten, was freilich nicht über ihr Abgetragensein hinwegtäuscht. Im Ganzen nichts von dem Manne, den man sich nach dem Ton der Karte vorstellt. Der schreibt doch einen ganz kräftigen Stil, und nun dieses sorgenvolle Kaninchen …
Aber der Assistent weiß längst, dass die Menschen oft sehr anders sind, als sie aussehen. Und dieser Mann ist immerhin durch die Aussage der Zeugin so schwer belastet, dass man die Angelegenheit wenigstens nachprüfen muss. Dieser Kartenschreiber muss die Herren oben ein bisschen nervös gemacht haben, erst neulich gab’s da wieder unter »Geheim! Streng geheim!« einen Befehl, dass auch der kleinsten Spur in dieser Sache unverzüglich nachzugehen sei.
Wär ganz schön, wenn ich da einen kleinen Erfolg hätte!, denkt der Assistent. Es wird höchste Zeit mit einer kleinen Beförderung.
In dem allgemeinen Geschimpfe geht er fast unbeachtet an den kleinen Mann beim Spiegel heran, tippt ihn auf die Schulter und sagt: »Kommen Sie doch mal einen Augenblick auf den Flur. Ich möchte Sie mal was fragen.«
Gehorsam folgt ihm Enno Kluge, wie er jedem Befehl gehorsam folgt. Aber während er schon hinter dem unbekannten Herrn dreingeht, erfasst ihn Angst: Was soll das? Was will der von mir? Der sieht doch wie ein Bulle aus, und er spricht auch ganz wie ein Bulle. Was habe ich mit der Kripo zu tun – ich habe doch gar nichts getan!
Im gleichen Augenblick fällt ihm der Einbruch bei der Rosenthal ein. Es ist kein Zweifel, der Barkhausen ist hochgegangen und hat ihn verpfiffen. Und die Angst wird stärker in ihm, er hat doch geschworen, er will nichts aussagen, und wenn er nun doch aussagt, wird ihn dieser Kerl von der SS wieder vornehmen und vertrimmen, und diesmal noch viel schlimmer! Er darf nichts aussagen, aber wenn er nichts aussagt, nimmt ihn sich dieser Bulle vor, und dann schwatzt er doch. Hier Verderben, dort Verderben … Oh, diese Angst!
Als er auf den Flur tritt, sehen ihn vier Gesichter erwartungsvoll an – aber er sieht sie gar nicht, er sieht nur die Uniform des Schupos und weiß, dass er mit seiner Angst recht gehabt hat, dass er nun wirklich zwischen Verderben und Verderben steht.
Und diese Angst verleiht Enno Kluge Eigenschaften, die er sonst nicht besitzt, nämlich Entschlusskraft, Stärke und Schnelligkeit. Er wirft den überraschten Assistenten, der dies nie von dem kleinen Schwächling erwartet hätte, gegen den Schupo, läuft an Arzt und Hilfe vorbei, reißt die Flurtür auf und ist schon auf der Treppe …
Aber hinter ihm trillert die Pfeife des Schupos, und diesem langbeinigen jungen Mann ist er im Tempo nicht gewachsen. Auf der untersten Treppe wird er eingeholt, der Schupo versetzt ihm einen Schlag, der ihn gleich auf die Stufen niederschickt, und als er vor drehenden Sonnen und Feuerkreisen wieder sehen kann, sagt dieser Schupo freundlich lächelnd: »Na, streck mal deine süße Pfote her! Will dir lieber ein Armband schenken. Das nächste Mal machen wir so ’nen Spaziergang gemeinsam, was?«
Und schon hat die Stahlfessel um sein Handgelenk geklirrt, und es geht wieder treppauf, zwischen dem schweigsamen, finster blickenden Bullen und dem vergnügt lächelnden Bullen, dem dieser kleine Ausreißer nur Spaß macht.
Oben, wo die Patienten jetzt auf dem Flur stehen und gar nicht mehr böse sind über die lange Wartezeit bei ihrem Doktor, denn eine Verhaftung ist immer etwas Interessantes, und wie die Sprechstundenhilfe erzählt hat, ist dies sogar ein Politischer, ein Kommunist, und diesen Brüdern geschieht es ganz recht – oben also geht es an all diesen Gesichtern vorbei in das Behandlungszimmer des Arztes. Das Fräulein Kiesow wird gleich von dem Assistenten hinausgeschickt, der Arzt aber darf bei der Vernehmung dabeibleiben und hört, wie der Assistent sagt: »So, mein Sohn, nun setz dich erst mal hier auf den Stuhl und ruhe dich von deiner Rennerei aus. Du machst ja ordentlich einen abgehetzten Eindruck! Wachtmeister, Sie können dem Herrn erst einmal die Fessel wieder abnehmen. Der rennt uns nicht noch einmal weg – oder?«
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