Und ärgerlich reißt er dem Enno Kluge die Karte wieder aus der Hand, sagt kurz »Heil Hitler!« und verlässt mit dem Schupo und seinem Festgenommenen das Behandlungszimmer.
Langsam zerreißt der Arzt wieder den für Enno Kluge vorbereiteten Behandlungsschein. Es war keine Gelegenheit, ihm den zuzustecken. Schade! Aber wahrscheinlich hätte er ihm doch nichts geholfen, vielleicht war dieser Mann, der den Schwierigkeiten der heutigen Zeit so wenig gewachsen schien, doch bereits zum Untergang verurteilt. Vielleicht konnte ihm keine Hilfe von außen wirklich helfen, weil nichts Festes in ihm war.
Schade …
Wenn der Kriminalassistent trotz seiner festen Überzeugung, der Enno Kluge komme weder als Schreiber noch als Verbreiter der Karten in Frage, wenn er trotzdem in seiner telefonischen Meldung beim Kommissar Escherich durchblicken ließ, der Kluge sei doch wohl Verbreiter dieser Pamphlete, so tat er es darum, weil ein kluger Untergebener nie die Ansichten seines Vorgesetzten vorwegnehmen soll. Gegen den Kluge lag eine feste Anzeige der Sprechstundenhilfe Fräulein Kiesow vor, und ob die nun begründet war oder nicht, das mochte der Herr Kommissar selber herausfinden.
War sie begründet, so war der Assistent ein fähiger Mann und des Wohlwollens des Kommissars sicher. War sie aber nicht begründet, so war der Kommissar klüger als der Assistent, und so ein Klügersein des Vorgesetzten ist für den Untergebenen oft bekömmlicher als alle Tüchtigkeit.
»Nun?«, sagte der lange, graue Escherich und storchte hinein in das Revier. »Nun, Kollege Schröder? Wo haben Sie denn Ihren Fang?«
»In der hintersten Zelle links, Herr Kommissar.«
»Hat der Klabautermann gestanden?«
»Wer? Klabautermann? Ach so, ich verstehe! Nein, Herr Kommissar, ich habe ihn natürlich nach unserm Telefongespräch sofort abführen lassen.«
»Gut!«, lobte Escherich. »Und was weiß er von den Karten?«
»Ich habe«, sagte der Assistent vorsichtig, »ihn die aufgefundene Karte einmal vorlesen lassen. Den Anfang, heißt das.«
»Eindruck?«
»Ich möchte da nicht vorgreifen, Herr Kommissar«, sagte der Assistent vorsichtig.
»Nicht zu ängstlich, Kollege Schröder! Eindruck?«
»Mir erscheint es jedenfalls unwahrscheinlich, dass er der Schreiber dieser Karte ist.«
»Warum?«
»Ist nicht sehr helle. Außerdem furchtbar verängstigt.«
Der Kommissar Escherich strich unzufrieden über seinen sandfarbenen Schnurrbart. »Nicht sehr helle – furchtbar verängstigt«, wiederholte er. »Na, mein Klabautermann ist helle und bestimmt nicht verängstigt. Wieso glauben Sie, dass Sie den Rechten gefasst haben? Berichten Sie mal!«
Der Assistent Schröder tat es. Vor allen Dingen wiederholte er stark die Beschuldigungen der Sprechstundenhilfe und betonte auch den Fluchtversuch. »Ich konnte es nicht anders machen, Herr Kommissar. Nach den ergangenen Befehlen musste ich ihn festhalten.«
»Richtig, Kollege Schröder. Ganz richtig gehandelt. Hätt ich auch nicht anders gemacht.«
Escherichs Mut hatte sich durch diesen Bericht wieder etwas verstärkt. Der klang besser als »nicht sehr helle« und »stark verängstigt«. Vielleicht ein Kartenverteiler, trotzdem der Kommissar bisher eigentlich fest angenommen hatte, der Klabautermann habe keine Mitwisser.
»Haben Sie seine Papiere schon durchgesehen?«
»Hier liegen sie. Bestätigen im Allgemeinen, was er sagt. Ich habe den Eindruck, Herr Kommissar, das ist so ein Arbeitsscheuer, Angst vor der Front, keine Lust zum Arbeiten, Pferdewetter ist er auch – ich habe einen ganzen Packen Rennzeitungen und Berechnungen bei ihm gefunden. Und dann noch ziemlich gewöhnliche Briefe von kommunen Weibern, so ein Früchtchen, verstehen Sie, Herr Kommissar. Aber immerhin an die Fünfzig heran.«
»Schön, schön«, sagte der Kommissar, fand es aber gar nicht schön. Weder der Kartenschreiber noch ein etwaiger Verteiler konnte viel mit Weibern zu tun haben. Das stand für ihn fest. Seine eben erst wiederbelebte Hoffnung begann von neuem schwächer zu werden. Aber dann dachte Escherich an seinen Vorgesetzten, den Obergruppenführer Prall, und an die noch höheren Vorgesetzten bis zu Himmler hinauf. Die würden ihm in der nächsten Zeit das Leben verdammt schwermachen, wenn gar keine Spur vorlag. Hier aber war eine Spur, wenigstens lagen hier starke Beschuldigungen und verdächtiges Benehmen vor. Man konnte diese Spur verfolgen, auch wenn man sie im geheimsten Innern nicht ganz für die richtige hielt. Man gewann Zeit, weiter geduldig warten zu können. Niemand geschah ein Leid dadurch. Was kam es schließlich auf solch ein Früchtchen an!
Escherich stand auf. »Ich geh mal hinten zu den Zellen, Schröder. Geben Sie mir mal die neue Karte, und warten Sie hier.«
Der Kommissar ging ganz leise, er hielt die Schlüssel fest in der Hand, damit sie nicht klapperten. Ganz vorsichtig schob er die Blende vom Spion und sah in die Zelle.
Der Inhaftierte saß auf einem Schemel. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und seine Augen auf die Tür gerichtet. Es machte ganz den Eindruck, als sähe der Mann grade in das lauernde Auge des Kommissars. Aber der Gesichtsausdruck Kluges verriet, dass er nichts sah. Der Mann war nicht zusammengeschreckt, als die Blende bewegt worden war, sein Gesicht hatte auch nichts Gespanntes, wie es sonst stets bei einem ist, der sich beobachtet fühlt. Sondern er sah so einfach vor sich hin, kaum in Gedanken verloren, eher dösend, von trüben Ahnungen voll.
Der Kommissar am Guckloch wusste es jetzt mit Bestimmtheit: Dies war weder der Klabautermann noch ein Helfershelfer. Sondern dies war einfach ein Missgriff – die Beschuldigungen mochten gelautet haben, wie sie wollten, und das Verhalten mochte noch so verdächtig gewesen sein.
Aber Escherich dachte auch wieder an seine Vorgesetzten, er kaute an seinem Bart, er überlegte, wie man diese Sache recht lange hinziehen könnte, bis entdeckt wurde, dies war der Falsche. Blamieren durfte er sich ja auch nicht dabei.
Er schloss mit einem Ruck die Zelle auf und trat ein. Der Verhaftete war bei dem Klirren des Schlosses zusammengefahren, starrte erst verwirrt auf den Eintretenden, dann machte er einen Versuch aufzustehen.
Aber Escherich drückte ihn gleich auf den Schemel zurück.
»Bleiben Sie sitzen, Herr Kluge, bleiben Sie sitzen. In unserm Alter kommt man nicht mehr so leicht hinten hoch!«
Er lachte, und dieser Kluge machte auch Anstalten, mitzulächeln, aus purer Höflichkeit ein bisschen kläglich mitzulächeln.
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