Der Brust des Assistenten entrang sich ein Laut wie Stöhnen. »Den Donner!«, sagte er dann. »Aber er kann doch gar nicht …«
»Und jetzt«, fuhr der Kommissar unberührt fort, »und jetzt machen wir beide hier nur ein kleines Protokoll, und dann geht der Herr Kluge nach Haus. Ist frei. Stimmt’s, Herr Kluge, oder stimmt’s nicht?«
»Ja«, antwortete Kluge, aber nur ganz leise, denn die Gegenwart des Bullen flößte ihm immer neue Bedenken und neue Angst ein.
Der Assistent aber stand ganz dämlich da. Der Kluge hatte die Karte nicht hingelegt, nie und nie im Leben, das stand für ihn fest. Und nun war der Kluge doch bereit, das Gegenteil zu unterschreiben.
Was für ein Fuchs, dieser Escherich! Wie er das wohl erreicht haben mochte? Schröder gestand sich – nicht ohne Neid – ein, dass dieser Escherich ihm weit überlegen war. Und dann, nach solchem Geständnis, den Burschen auch noch freilassen! Nicht zu verstehen, nicht zu durchschauen! Na, es gab eben immer noch Klügere, so schlau man sich auch vorkam.
»Hören Sie, Kollege«, sagte Escherich, der jetzt die Verblüffung des Assistenten genug genossen hatte, »Sie könnten eigentlich einen Gang für mich tun, jetzt gleich, aufs Präsidium.«
»Zu Befehl, Herr Kommissar!«
»Sie wissen, ich habe da doch diesen Fall – wie hieß er doch gleich? –, ach ja, diesen Fall Klabautermann. Sie erinnern sich doch, Kollege?«
Die Augen beider trafen sich und verstanden sich.
»Also, Herr Schröder, Sie gehen für mich aufs Präsidium und sagen dem Kollegen Linke – aber setzen Sie sich doch, Herr Kluge, entschuldigen Sie, ich will dem Kollegen nur noch ein paar Worte sagen.«
Er ging mit dem Assistenten zur Tür. Er flüsterte: »Fordern Sie dort zwei Leute an. Sollen sofort hierherkommen, tüchtige Leute zum Beschatten. Dieser Kluge wird vom Verlassen des Reviers an ohne Unterbrechung beschattet. Meldung über seine Wege alle zwei, drei Stunden, wie’s passt, telefonisch zu mir auf die Gestapo. Deckwort: Klabautermann. Zeigen Sie den beiden Leuten den Mann, sie sollen sich ablösen. Und kommen Sie wieder hier rein, wenn die Männer bereitstehen. Dann lass ich das Häschen hier laufen.«
»Geht alles in Ordnung, Herr Kommissar. Heil Hitler!«
Die Tür klappte, der Bulle war gegangen. Neben Enno Kluge setzte sich der Kommissar und sagte: »Also den wären wir los! Den mögen Sie wohl nicht sehr gerne, Herr Kluge?«
»Nicht so sehr wie Sie, Herr Kommissar!«
»Haben Sie gesehen, was der für Augen machte, als er hörte, ich lasse Sie laufen? Der hat jetzt eine schöne Wut im Bauch! Deswegen habe ich ihn ja grade weggeschickt, den kann ich bei unserm kleinen Protokoll nicht brauchen. Hätte uns immerzu reingeredet. Ich lasse nicht mal ein Tippfräulein kommen, kliere die paar Zeilen lieber allein. Ist ja doch nur eine Abmachung unter uns, damit ich vor meinen Vorgesetzten wegen Ihrer Freilassung ein bisschen gedeckt bin.«
Und nachdem er so den kleinen Angstpeter wieder ein bisschen beruhigt hatte, nahm er die Feder und begann zu schreiben. Manchmal sagte er laut und deutlich, was er schrieb (wenn er das schrieb, was er laut sagte, was bei einem so gerissenen Kriminalisten, wie es der Escherich war, nicht einmal so ganz sicher war), manchmal murmelte er nur. Kluge konnte nicht recht verstehen, was er sagte.
Er sah nur, es wurden nicht nur ein paar Zeilen, es wurden drei, es wurden fast vier Aktenseiten. Aber das interessierte ihn im Augenblick noch nicht einmal so sehr, ihn interessierte bloß, ob er jetzt wirklich gleich freikam. Er sah nach der Tür hin. Mit einem raschen Entschluss stand er auf, ging zu ihr hin und öffnete sie ein wenig …
»Kluge!«, rief es hinter ihm, aber nicht befehlend. »Herr Kluge, ach bitte!«
»Ja?«, fragte er und sah zurück. »Ich darf wohl doch nicht gehen?« Er lächelte ängstlich.
Der Kommissar sah ihn, den Federhalter in der Hand, mit einem Lächeln an. »Also reut Sie’s schon wieder, Herr Kluge, was wir besprochen hatten? Was Sie mir fest versprochen hatten? Nun schön, habe ich den Kohl umsonst gekliert!« Er legte die Feder energisch weg. »Aber gehen Sie doch, Kluge – freilich, das sehe ich nun, dass Sie kein Mann von Wort sind. Also gehen Sie schon, ich weiß doch, Sie unterschreiben nicht! Ist auch gut, meinethalben …«
Und auf diese Weise erreichte es der Kommissar, dass Enno Kluge wirklich das Protokoll unterschrieb. Ja, Kluge verlangte nicht einmal, dass es ihm vorher laut und deutlich vorgelesen wurde. Er unterschrieb ahnungslos.
»Und jetzt darf ich gehen, Herr Kommissar?«
»Natürlich. Besten Dank auch, Herr Kluge, haben Sie gut gemacht. Auf Wiedersehen. Das heißt, besser nicht hier, besser nicht an dieser Stelle. Ach, einen Augenblick noch, Herr Kluge …«
»Ich darf also doch nicht gehen?«
Im Gesicht Kluges zitterte es schon wieder.
»Aber gewiss doch! Trauen Sie mir schon wieder nicht mehr? Sind Sie aber ein misstrauischer Mensch, Herr Kluge! Doch ich denke, Sie würden gerne Ihre Papiere und Ihr Geld mitnehmen? Na, sehen Sie! Also wollen wir mal schauen, ob auch alles da ist, Herr Kluge …«
Und sie fingen an zu vergleichen: Arbeitsbuch, Wehrpass, Geburtsurkunde, Trauschein …
»Wozu schleppen Sie eigentlich all die Papiere mit sich rum, Kluge? Wenn die Ihnen mal verlorengehn!«
… Polizeiliche Anmeldung, vier Lohntüten …
»Viel verdienen Sie aber nicht, Herr Kluge! Ach so, ja richtig, ich sehe, jede Woche nur drei, vier Tage gearbeitet, Sie kleiner Drückeberger, Sie!«
… Drei Briefe …
»Nee, lassen Sie nur, die interessieren mich gar nicht!«
… 37 Reichsmark in Scheinen und 65 Reichspfennig in Münzen …
»Sehen Sie, da haben wir ja auch den Zehnmarkschein, den Sie von dem Herrn bekommen haben, den nehme ich wohl lieber zu den Akten. Aber, warten Sie, Sie sollen dadurch keinen Verlust haben, ich gebe Ihnen zehn Mark von mir als Ersatz …«
So trieb es der Kommissar so lange, bis der Assistent Schröder wieder hereinkam: »Befehl ausgeführt, Herr Kommissar. Und ich soll melden, der Kommissar Linke möchte Sie auch noch gerne wegen des Falls Klabautermann sprechen.«
»Schön, schön. Danke auch bestens, Kollege. Ja, wir hier sind fertig. Also denn auf Wiedersehen, Herr Kluge. Schröder, zeigen Sie dem Herrn Kluge doch mal den Weg. Also, Herr Schröder geht mit durch die Revierstube. Nochmals auf Wiedersehen, Herr Kluge. Die Fabrik vergesse ich nicht. Nein, nein! Heil Hitler!«
»Na, denn nichts für ungut, Herr Kluge«, sagte Schröder, stand auf der Frankfurter Allee und schüttelte ihm die Hand. »Sie wissen, Beruf ist Beruf, und manchmal müssen wir auch ein bisschen derbe zufassen. Aber ich habe Ihnen gleich wieder die Handfessel abnehmen lassen. Von dem Puff, den Ihnen der Wachtmeister gab, spüren Sie doch nichts mehr?«
Читать дальше