Aber warte, eines Tages werde ich trotz aller Kniffe und Pfiffe wieder aus diesem Haus herauskommen, und dann sollst du sehen, was ich alles tun werde …‹
Und mit wilder Wut stürzte ich mich in Rachefantasien. Ich verkaufte das Geschäft hinter ihrem Rücken, und wollüstig malte ich mir aus, wie sie eines Morgens auf das Kontor kommen würde, aber auf ihrem – meinem – Platz hinter dem Chefschreibtisch würde der junge Unternehmer von der Konkurrenz sitzen und ihr spöttisch entgegenlächeln: »Nun, Frau Sommer, auch einen kleinen Einkauf in meiner Firma tätigen? Zehn Kilo gelbe Viktoria-Erbsen gefällig? Ein Kilo blauen Mohn für den Sonntagskuchen?« Sie aber würde vor Scham und Zorn und Verzweiflung dunkelrot werden, und ich sah das alles, im großen Registraturschrank versteckt, mit frohlockendem Herzen an.
Oder ich malte mir aus, wie ich nach meiner Entlassung aus diesem Totenhaus in die weite Welt hinauswandern würde, wie ich mich lange Jahre als Bettler und Stromer in fremden Landen herumtreiben und erst spät, für jeden unkenntlich, in meine Vaterstadt heimkehren würde. Da würde ich an der Tür meines eigenen Hauses um ein Stückchen Brot betteln, hart aber würde sie es mir verweigern. In der Nacht dann würde ich mich am Pflaumenbaum vor ihrem Fenster erhängen, einen Zettel in der Tasche, wer ich sei und dass ich ihr alles mir angetane Unrecht verziehe …
Tränen der Rührung über mein unseliges Schicksal traten mir jetzt in die Augen, und diese Fantasien, so kindisch sie auch waren, beruhigten mein Herz doch ein wenig.
Längst schliefen meine Gefährten, die noch bis zum Dunkelwerden miteinander geplaudert hatten, das heißt nur zwei von ihnen, der dritte, ein älterer Mann mit einem schönen traurigen Gesicht und einer wundervoll gewölbten hohen Stirn, hatte sofort die Decke über den Kopf gezogen. Ich beglückwünschte mich zu den ruhigen, anständigen Schlafgenossen; ich merkte es in dieser Nacht: Sie hatten auch einander dazu erzogen, den Kübel nur zum kleinen Geschäft zu benutzen und sich das andere, lästige für den Tag aufzusparen. Ein kleines Gefühl von Dankbarkeit regte sich wieder in mir für den arglistigen Medizinalrat, dass er mir diese so viel bessere Schlafgelegenheit besorgt hatte. Ich war überzeugt davon, dass ich mit den unbescholtensten und gesündesten Menschen im ganzen Bau zusammengelegt worden war.
Es dauerte freilich nur ein paar Tage, bis ich erfuhr, dass der ältere Mann mit der schönen Stirn und dem traurigen Gesicht, der den ungewöhnlichen Namen Qual führte, ein Mörder war, der seinen Vetter wegen Geldes in geradezu bestialischer Weise abgeschlachtet hatte. Jetzt war sein Geist durch all die Qualen, die er erst lange Jahre im Zuchthaus und nun hier in diesem Haus erlitten hatte, völlig verwirrt. Bei ihm war jedenfalls sein Name sein Schicksal, das verriet schon sein Gesicht.
Tagelang war er ganz stumm, und dann hatte er wieder Zeiten, in denen er mit heiterer, hoher Stimme (und doch immer fast tonlos, ganz ohne Resonanz) vieles erzählte: vom ausdörrenden Sonnengott, vom Glashaus auf dem Montblanc, in dem die nächste Eiszeit zu verbringen war, und von den Kastanien und Eicheln, die durch eine von ihm erdachte »Säfteumkehrung« essbar werden würden. Dadurch würde unsere Anstaltsverwaltung in die Lage versetzt werden, uns mit besserer Kost und doch ganz umsonst zu ernähren. (Wie bei uns allen, kreisten auch bei Qual die Gedanken wohl verwirrt, doch unablässig um das bisschen Fressen.)
Zu anderen Zeiten war Qual wieder stumm oder streitbar und reizsüchtig, dann gingen ihm alle weit aus dem Wege. Er stand in dem – vielleicht ganz unbegründeten – Ruf, ein »kalter Mörder« zu sein, um ein einziges Wort würde er jeden Menschen umbringen. Ich glaube, dass dieser Ruf ganz unbegründet war; ich habe jedenfalls kein einziges Mal erlebt, dass er die Hand gegen einen anderen erhoben hätte.
Qual hatte einen wirklich großen Kummer: dass er seiner Ansicht nach nicht richtig Deutsch sprechen und schreiben konnte. Oft versicherte er mir, er würde all sein Essen von einer ganzen Woche für das Buch »Lies und schreib richtig Deutsch« hingeben. Dabei sprach er ein sehr viel besseres und gewählteres Deutsch als fast alle anderen Insassen im Bau, seine flüsternde und dabei doch heitere Sprechweise vermochte seinen Worten sogar eine Art von Charme zu verleihen.
Wenn ich, für den er eine gewisse Vorliebe gefasst hatte, ihm das zur Beruhigung seines Kummers versicherte, so sagte er lächelnd: »Nein, nein, ich weiß, was ich weiß. Und dabei hätte ich so gut Deutsch lernen können, ›uns’ Mudding‹ sprach ein so reines und schönes Deutsch, aber nie mit mir. Mit mir musste sie immer taltschen und albern, sie verdrehte jedes Wort auf die kindischste Weise. Das war sehr unrecht von ›uns’ Mudding‹; es hat mir im Leben viel geschadet, dass ich kein gutes Deutsch sprach. Sie hätten mich auch nie festnehmen können, wenn ich richtig Deutsch gesprochen hätte – wie konnten sie mich überhaupt festnehmen? Wer gab ihnen das Recht dazu?«
Die letzten Worte hatte er schon fast unhörbar zu sich selbst gesprochen, und nun hatte sich sein kranker Geist wieder in dem krausen Gespinst seiner wirren Gedanken verloren; von meiner Gegenwart wusste er nichts mehr.
Aber mit »uns’ Mudding« hatte es Qual oft, immer hatte er dann etwas an ihr auszusetzen: dass sie alles wegschenkte, dass sie sich nie Ruhe gönnte, dass sie überhaupt viel zu gut war. Aber alle diese Ausstellungen machte er mit einem so heiteren, leichten Ton, dass man gerade aus ihnen die Liebe des alternden Mannes zu der längst gestorbenen Mudding spürte; er sprach mit einer fröhlichen Überlegenheit von ihr und blieb dabei doch immer der gehorsame Sohn einer guten Mutter.
Qual war der Sohn eines Schlossermeisters in einer kleinen holsteinischen Stadt. Kurz vor dem Tode des Vaters hatte er, damals schon als Geselle in ihr arbeitend, die Schlosserei übernommen und als Meister weiter betrieben. Was ihn zu seiner bestialischen Tat getrieben, weiß ich nicht. Das alles lag schon zwei Jahrzehnte zurück, seitdem lebte Qual in festen Häusern. Auch bei uns arbeitete er in der Anstaltsschlosserei und genoss sogar eine gewisse Freiheit. Nie sagte ihm ein Beamter ein Wort, er verlangte allerdings auch nie etwas, war mit allem zufrieden.
Ich sehe ihn, da ich dies schreibe, wieder auf seinem Bett liegen, wie er es in jeder freien Minute tat – trotz des Verbots. Niemand sagte ihm deswegen auch etwas, vielleicht weil seine hinfällige Schwäche so sichtbar war. Neben dem Bett stehen seine Pantoffeln, er hat die Knie leicht angezogen und stützt den Kopf mit der schön gewölbten Stirn in die Hand. Manchmal sagte er dann langsam, in tiefe Gedanken verloren, vor sich hin: »Ich bekam ja keinen einzigen Auftrag mehr, und Not kennt kein Gebot …«
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