Der Arzt hörte meinen etwas weitschweifigen Bericht, das Gesicht in die Hand gestützt, fast schweigend an, nur selten eine kurze Frage einwerfend. Schließlich, als ich nichts mehr zu sagen wusste, sagte er: »Wie gesagt, es ist noch kein Gutachten von mir eingefordert, wir haben uns erst einmal nur ein bisschen unterhalten, um einander kennenzulernen. Machen Sie sich aber von dem Gedanken frei, Sommer« (Sommer! Nicht mehr »Herr« Sommer), »dass Ihre Berichte über das Gewesene Ihr Schicksal in diesem Hause entscheidend beeinflussen können. Über Ihre Zukunft entscheidet allein Ihr Wille, stark zu sein und Versuchungen wie den früheren zu widerstehen …« Er sah mich ernst an.
Ich bin nicht sehr schlagfertig, ja ich bin wohl ein etwas langsamer Denker, so nickte ich eifrig bejahend und meinen Besserungswillen beteuernd. Erst zehn Minuten später, in meinem Bett, wurde mir klar, dass der Arzt mit diesem Satz meine Aussagen eigentlich als Lügen gebrandmarkt hatte – ach nein, nicht nur eigentlich. Natürlich hatte er die Akten schon in der Hand gehabt und dort gelesen, wie ich fast für jeden Tag genaue Angaben über meinen Schnapsverbrauch gemacht hatte, sehr wesentlich höhere Angaben als heute. Aber da war es für den »guten ersten Eindruck« endgültig zu spät.
Jetzt reichte mir der Medizinalrat jedenfalls freundlich die Hand und sagte: »Also, wir sprechen uns wieder. Ich lasse Sie holen. Gute Nacht, Herr Sommer!«
Ich wollte schon gehen, da fragte der Oberpfleger: »Sommer soll doch arbeiten, Herr Medizinalrat?«
»Aber natürlich wird er arbeiten!«, rief der Medizinalrat. »Dann wird ihm die Zeit nicht lang, und das Grübeln vergeht ihm. Sie haben doch selbst den Wunsch, zu arbeiten, Sie eifriger Holzhofsäger!« (Also auch meine Arbeit auf dem Holzhof kannte er bereits, ich musste hundertmal vorsichtiger mit meinen Angaben werden!) Ich versicherte, dass ich keinen sehnlicheren Wunsch hätte. Ich hätte da einen schönen großen Garten vor der Mauer gesehen, vielleicht könnte ich in der Gärtnerei beschäftigt werden? Ich hätte immer so viel Lust zur Gärtnerei gehabt!
Der Medizinalrat und seine rechte Hand sahen einander an und dann mich. Sie lächelten etwas dünn. »Nein, in dieser allerersten Zeit möchten wir Sie besser doch noch nicht ›draußen‹ arbeiten lassen«, sagte der Medizinalrat sanft. »Dazu müssen wir einander erst ein bisschen besser kennenlernen …«
»Ach, Sie denken, ich laufe fort?«, rief ich entrüstet. »Aber, Herr Medizinalrat, wohin sollte ich denn laufen, in dieser Tracht, ohne Geld? Ich käme keine zehn Kilometer weit …«
»Auch zehn Kilometer wären schon zu viel«, unterbrach mich der Arzt. »Nun, Oberpfleger?«
»Ich denke, ich stecke ihn zum Bürstenmachen, da fehlt uns gerade ein Mann. Lexer kann ihn anlernen …«
»Lexer?«, unterbrach ich den Oberpfleger entsetzt. »Ich bitte Sie: bloß nicht Lexer! Wenn mir ein Mensch verhasst ist, so ist es dieses kleine, widerliche, gellende Biest! Alles in mir dreht sich vor Ekel um, wenn ich diese Stimme nur höre … Alles, was Sie wollen, bitte, nur nicht Lexer!«
»Haben Sie auch draußen schon an so heftigen Antipathien gelitten, Sommer?«, fragte der Medizinalrat sanft. »Sie sind kaum vierundzwanzig Stunden in diesem Haus und haben schon einen solchen Hass auf einen ganz harmlosen schwachsinnigen Bengel gefasst.«
Ich war verwirrt, verlegen – schon wieder hatte ich einen Fehler begangen. »Es gibt doch so plötzliche Antipathien, Herr Medizinalrat«, sagte ich. »Man sieht einen Menschen, hört nur seine Stimme, und schon …«
»Ja, ja«, unterbrach er mich und sah plötzlich müde und traurig aus. »Wir reden von alledem noch später. Jetzt gute Nacht, Sommer!«
Es war eine Niederlage, eine schmähliche Niederlage, mit nichts war die Größe dieser Niederlage vor mir zu beschönigen. Ich war als ein Lügner entlarvt, ich hatte Abstinenzerscheinungen und litt an krankhaften plötzlichen Antipathien. Ich dachte vielleicht auch an Flucht. In ohnmächtiger Verzweiflung lag ich in meinem Bett, ich hätte weinen können vor Reue und Scham. So viel vorausbedacht und vorausgesorgt und in jede Falle hineingetappt wie der erste dumme, gehirnlose Junge!
Und es ist ja doch alles gar nicht wahr, was sie von mir denken, rief ich verzweifelt bei mir aus. Ich denke wirklich nicht an Flucht, und ich habe wirklich keine Abstinenzerscheinungen gehabt, oder nur an den allerersten zwei oder drei Tagen, und auch da nur ganz gering.
Und wenn ich den Arzt ein wenig über meinen Alkoholverbrauch angeschwindelt habe, so doch nie in der Absicht, ihn zu täuschen. Er kam mit einer vorgefassten schlechten Meinung von mir hierher, einer Meinung, die den Tatsachen nicht entsprach, es war eine Pflicht der Selbsterhaltung von mir, mit jedem Mittel diese vorgefasste Meinung zu zerstreuen!
Aber ich mochte mir was immer erzählen, die Tatsache blieb, dass ich eine schwere Niederlage erlitten hatte, dass ich in den Augen von Arzt und Oberpfleger wie ein kleiner windiger Spitzbube dastand, der sich mit allen Kniffen und Pfiffen von seiner Schuld freischwindeln will.
›Schuld?!‹, dachte ich. ›Was habe ich denn groß für eine Schuld?! Dies bisschen Bedrohung – Mordhorst hat gesagt, für eine Bedrohung kriegt man höchstens ein Vierteljahr! Das ist gar nichts, das kann man überhaupt nicht rechnen! Sie aber machen einen Riesensumms daraus, sie schleppen mich in Gefängnis und Heilanstalt, sie nehmen mir das »Herr« vor meinem Namen Sommer. Kohlwasser geben sie mir als Fraß, und sie veranstalten Verhöre mit mir, als sei ich ein Muttermörder und der letzte der Menschen! Ich bin gewiss, wenn sie mich nur fünf Minuten mit Magda reden ließen, ich hätte sie überzeugt; gemeinsam träten wir vor diesen lächerlichen Staatsanwalt mit der vorgeschobenen Unterlippe und den starrenden Augen, und dieser Kerl müsste sofort das Verfahren gegen mich einstellen!‹
›Aber‹, dachte ich rasch und qualvoll weiter, ›aber es liegt auch an Magda! Wenn sie ein bisschen von der Liebe und Treue hätte, die Ehegatten doch füreinander haben sollen, sie hätte sich längst zum Besuch bei mir vorgemeldet, sie setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um mich aus diesem Totenhaus herauszubekommen! Nichts von alledem! Nicht einmal einen Brief hat sie mir geschrieben. Aber ich weiß, wie es ist: Sie steckt mit den Ärzten unter einer Decke. Die erzählen ihr, ich bin hier gut aufgehoben und habe nichts auszustehen, und das genügt ihr, da macht sie sich keinen einzigen Gedanken mehr über mich. Sie hat ihren Zweck erreicht, walten und schalten kann sie in meinem Eigentum, wie sie will – das ist ihr das Wichtigste!
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