Er hatte seine Gefängnisstrafe wegen Sittlichkeitsvergehen mit jungen Burschen bekommen, und man hatte Herbst begreiflich gemacht, dass er nie auf die Freiheit würde rechnen können, wenn er nicht in diese Entmannung willige. Anderthalb Jahre hatte der junge Mensch mit sich gekämpft, dann hatte er eingewilligt. Zu der Zeit, da ich eingeliefert wurde, lag die Entmannung erst ein halbes oder gar nur ein Vierteljahr hinter ihm. Schon wurde er fett, sein Gesicht sah schwammig aus und war ungesund bleich. Die Augen blickten trostlos.
Aber er hoffte von Tag zu Tag auf die Entlassung, der Medizinalrat hatte sein Gesuch befürwortet, alle hatten es ihm gesagt. Da hatte er sich nun zu dieser schrecklichen Sache, der Entmannung, entschlossen, und noch immer war er nicht frei. Er wartete von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, aber der ersehnte Bescheid vom Generalstaatsanwalt kam nicht. Manchmal tobte Herbst: Man habe ihn richtig reingelegt, der Medizinalrat, der Oberpfleger, alle hätten sie ihn übers Ohr gehauen! Da sei er nun seine – Hoden los, und für was?! Für nichts, bloß damit die hohen Herren ihn auslachten!
Mittlerweile war es sonderbar, dass diese Entmannung nichts an seinen Gefühlen für Kolzer geändert hatte. Er war wie vorher sein Freund, sein einziger Umgang, sein Päppelbaby. Für ihn lebte er, nur an ihn dachte er. Hatte der Junge am Abend ein bisschen Fieber, redete Herbst bei unseren Einschlafgesprächen kein Wort mit; er hatte die Decke über den Kopf gezogen, aber er schlief nicht. Nein, vielleicht merkte Kolzer etwas davon, dass die Gefühle Herbstens für ihn sich jetzt verändert hatten, wir sahen nichts davon.
Am meisten von allen im Bau hasste Herbst den Schuster Buck, jenen eitlen, dummen und intriganten Menschen, der, wie ich im Falle Schmeidler erlebt hatte, die gleichen Neigungen wie Herbst hatte. Als an einem Abend der Schuster den Jungen Kolzer wegen heimlichen Brotessens im Glaskasten denunziert hatte, fiel Herbst, wohl ganz kopflos durch das lange, vergebliche Warten auf seine Entlassung geworden, über Buck her und schlug ihn windelweich.
Bei der nächsten Arztvisite wurde er vor den Medizinalrat gerufen und ihm eröffnet, seine bereits vom Generalstaatsanwalt verfügte Entlassung könne nun doch nicht erfolgen, da er durch diese Schlägerei völligen Mangel an Hemmungen, an Selbstbeherrschung bewiesen habe. Ich lasse es – einig diesmal mit dem ganzen Bau – dahingestellt, ob Herbst wirklich entlassen werden sollte, oder ob dies nur ein Vorgeben des Arztes war, um sich von einem Versprechen zu lösen, dessen Erfüllung sich durch die Haltung des Generalstaatsanwaltes nachträglich als sehr schwierig herausgestellt hatte. Jedenfalls wanderte Herbst statt in die ersehnte Freiheit erst einmal für vierzehn Tage in den Arrest und trat dann wieder seinen alten Posten als Kalfaktor an. Er war ein sehr schlechter Charakter, und doch musste ich die Haltung bewundern, mit der er diese fürchterliche Enttäuschung aufnahm. Er sprach nie wieder ein Wort von seiner Entlassung, er tat seine Arbeit fleißig, sauber und unredlich wie bisher, er lebte nur noch für den Bau.
Von meinem dritten Schlafgenossen, Holz mit Namen, weiß ich wenig genug zu berichten. Er war ein kräftiger junger Mann von etwa dreißig Jahren – jünger als seine Jahre aussehend, und man hätte den kleinen blonden Schnurrbart unter seiner Nase kokett nennen können, wenn sein maßlos trauriges Gesicht nicht jeden Gedanken an Koketterie verboten hätte. Er war erst ein gutes halbes Jahr in der Anstalt, kam aber direkt aus dem Zuchthaus, wo er sechs Jahre hatte verbringen müssen.
Da Qual entweder schwieg oder Unsinn redete, und da Herbst nur über sich, seinen Freund und die gehässigen Mitgefangenen reden konnte, wurde Holz mein Plaudergenosse für die zwei Stunden von halb acht bis halb zehn Uhr, die wir uns meist wachhielten, um morgens nicht gar zu früh aufzuwachen. Meist erzählte ich, oft von meinem früheren Leben, denn es war mir ein Bedürfnis, wenigstens einen Menschen davon zu überzeugen, dass ich einst in meinem Kreise ein wichtiger und angesehener Mann gewesen war. Oder aber ich erzählte ihm von den Nöten und Ängsten, in denen ich jetzt steckte, und es wäre wohl gut gewesen, ich hätte mehr auf Holzens einfache Ratschläge gehört.
»Kriech zu Kreuze vor deiner Frau, Sommer!« mahnte mich Holz oft. »Verlass dich nicht auf deinen Verstand und die juristischen Kniffe, darin sind dir die anderen doch über. Ich weiß, wie sie einem einfachen Menschen mitspielen können; du bist auch ein einfacher Mensch, Sommer. Der Medizinalrat wird dich immer wieder einpacken – und nun erst der Staatsanwalt! Geh auf alle Bedingungen ein, die dir deine Frau macht, verzichte selbst auf dein Eigentum, alles egal, nur sieh, dass du aus diesem Bunker rauskommst! Du ahnst noch nicht, was das heißt, lange zu sitzen. Schreib ihr, Sommer, schreibe ihr gleich morgen Mittag!« So sprach Holz mit seiner gleichmäßig ruhigen Stimme, die ohne jede Betonung war. Er als Einziger beharrte darauf, mich mit »du« anzureden und mit meinem Vornamen »Erwin«; mein »Sie«, bei dem ich mich freilich ihm gegenüber oft genug versprach, blieb ohne jeden Eindruck auf ihn.
Manchmal erzählte auch er. Aber nie von seiner Vergangenheit in der Freiheit, über sie erfuhr ich nur, dass er in Hamburg geboren und aufgewachsen war. Sonst nichts. Ich weiß nicht, was seine Eltern waren, was er gelernt hat, welche Straftaten (und es müssen schon schwere Straftaten gewesen sein!) ihn so lange ins Zuchthaus brachten.
Ich glaube, mir erzählte mal ein Beamter, dass Holz einmal ein berühmter Einbrecher war. Ich kann es kaum glauben. Er war so still, so einfach, ohne jede Initiative und Protest, ich traue ihm einfach nicht die Energie für diesen gefährlichen, Geistesgegenwart und rasche Entschlusskraft bedingenden Verbrecherberuf zu. Aber es ist ja immerhin möglich, dass die lange Zuchthauszeit ihn völlig verändert hat.
»Ich habe sechs Jahre Zuchthaus ohne eine Strafe, ohne eine Stunde Arrest abgerissen!«, sagte er mir einmal. So einfach er es sagte, es klang doch Stolz daraus. Am liebsten erzählte er von dieser Zuchthauszeit. Er berichtete mir von seinen Arbeiten, erzählte mir in aller Ausführlichkeit, wie er mit dem Weben von Matratzenstoff angefangen habe, dann zum Hemdenstoff übergegangen sei. Darauf sei er mit Strümpfestricken an der »Flachmaschine« beschäftigt worden – wobei ich mir unter einer Flachmaschine auch dann nur wenig denken konnte, als ich erfuhr, es gäbe auch eine »Rundmaschine«, auf der Strümpfe gestrickt wurden.
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