Nun kam eine der besten Zeiten Holzens im Zuchthaus: Er kam als Aufwäscher in die Küche. Dort hatte er zu essen, soviel er wollte, war mit Kameraden zusammen und bekam sogar alle Tage Weiber wenigstens zu sehen. Diese Weiber kamen aus dem nahe gelegenen Weiberzuchthaus, um das Essen zu holen. Trotz aller Aufsicht wurden Blicke und Briefe gewechselt, ja es gelang sogar, den Weibern Brot und Wurst und Margarine zuzustecken. Holz versicherte mir, dass er nur tat, was all’ seine Küchenkameraden taten, aber als diese Schiebungen herauskamen, luden die anderen alle Schuld auf ihn ab, und er wurde aus der Küche abgelöst.
Nur seine gute Führung rettete ihn vor einer Arreststrafe. Es folgte ein schreckliches Jahr: Holz musste in einer Einzelzelle alte Taue zu Werg zerrupfen – wie sehr ich bei der Erwähnung dieser Arbeit an Magdas rettenden Abschluss mit der Gefängnisverwaltung und an meine Hamburger Reise dachte! Schließlich kam Holz als nicht fluchtverdächtig auf Außenarbeit, die Zuchthauszelle sah ihn nur noch zum Schlafen, den ganzen Tag über wirkte er draußen im Freien auf den Feldern oder winters in einer Sägemühle. Von all diesen ganz einfachen Dingen erzählte Holz gern. Er wusste noch jedes Pensum, das ihm auferlegt worden war; Garne, die ihm bei der Verarbeitung Schwierigkeiten gemacht hatten, konnte er mir mit dem gleichen frischen Ärger schildern, den er vor Jahren wohl in seiner Einzelzelle empfunden.
Holzens Spezialität aber waren seine Berichte vom Essen. Da alle stets hungrig waren, redeten alle im Bau ständig vom Essen, dachten eigentlich nur daran. (Auch auf diese Seiten hat das abgefärbt!) Dieses Gerede vom Essen war wie eine Manie, es machte unsere Hungerqual nur noch größer, aber wir konnten es nie lassen. Holz war darin nun einfach Meister. Nicht, dass er sich etwa raffinierte Mahlzeiten ausgedacht hätte, bei denen einem das Wasser im Munde zusammenlief, nein, seine Schilderungen waren von biblischer Schlichtheit. Die Mahlzeiten, die er schilderte, waren einfacher selbst als das, was ein einfacher Arbeiter isst, es waren die Mahlzeiten, die er im Zuchthaus bekommen hatte.
Sein Kopf, den nie starke Gedankenarbeit beansprucht hatte, war ausgeruht genug, um mir jede Veränderung des im Allgemeinen gleichbleibenden Küchenzettels im Zuchthaus mitzuteilen; er wusste noch das Auf und Ab der Brotrationen; die Zahl der Pellkartoffeln, die ein Arrestgefangener mittags statt Brot bekam (acht bis vierzehn), und die Sonderzulagen in Brot, Wurst und Käse für Über- und Landarbeit. Er wusste alle Weihnachtsgeschenke noch. Und am beredtesten wurde er, wenn er mir schilderte, wie ein Bauer, zufrieden mit guter Mäharbeit, der Zuchthauskolonne dick mit »guter Butter« oder Schmalz bestrichene Stullen geschenkt hatte, dazu pro Mann fünf Zigaretten. Jedes derartige Erlebnis hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben, und noch heute zitterte beim Bericht seine Stimme, als er mir erzählte, wie sein Magen einmal das ungewohnt fette Essen nicht vertragen, sondern wieder ausgebrochen habe.
So einfach waren Holzens Essenberichte, und doch lauschte ich ihnen immer wieder gerne, sie waren so rührend! Und es hungerte sich gut bei ihnen, weil sie so einfach waren. Wir aber konnten dabei immer wieder feststellen, dass ein Zuchthäusler ungefähr doppelt so viel Essen wie der Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt bekommt.
»Da siehst du es«, sagte dann Holz wohl, »wie sie uns beklauen! Aber was willst du machen? Ein Esel ist da zum Lastentragen und Prügeln, und wir sind noch schlimmer dran als ein Esel, der doch noch ein paar Mark wert ist. Bei uns sind sie nur froh, wenn wir tot sind.« Solche Worte sagte Holz ohne Anklage, ja, auch ohne Bitterkeit. Das waren für ihn selbstverständliche Feststellungen über den unabänderlichen Lauf der Welt.
Im Bau genoss der stille Holz einen guten Ruf, sowohl bei den Beamten wie bei den Gefangenen. Er war auch hier sofort »ohne Bewährungsfrist« auf Außenarbeit gekommen, er arbeitete für einen Bauunternehmer in einer Kiesgrube. Dabei kam er wohl viel mit »Zivilisten« zusammen und bekam mancherlei geschenkt. Immer hatte er für einen Kameraden zwei Streichhölzer oder ein Zwiebelchen übrig, und er war der vielbeneidete Besitzer eines Glases mit Salz, auch Muskat und Pfeffer besaß er. Damit verschönte er seine Wassersuppen.
Aus einer gefundenen alten Sardinenbüchse hatte er sich eine Reibe gemacht, indem er in ihren Boden mit einem Nagel Löcher geschlagen hatte, und auf dieser Reibe rieb er Petersilienwurzeln, Sellerieknollen, Mohrrüben, ja, wenn der Hunger sehr arg war, sogar rohe Kartoffeln. Mit all diesen Kleinigkeiten, die einem Menschen »draußen« ganz selbstverständlich erscheinen, verschönte er sich sein stilles, schlichtes Leben, brachte ein wenig Freude hinein, wusste immer etwas, auf das er sich freuen konnte. Er spielte nie bei einem Spiel mit, entweder, weil er es nicht konnte, oder nicht wollte, las nie eine Zeitung, hörte beim Radio nur die leichteste Tanzmusik an. »Das macht mir Laune!«, sagte er dann, in seinen Augen war ein wenig Licht, und er lächelte ein seltenes, rührendes Lächeln.
Alles in allem ein bescheidener, ruhiger Mensch – ich bin froh, dass ich mich nie ernstlich nach seiner Straftat erkundigt habe, ich möchte mir dieses Bild nicht schwärzen.
Das waren die drei Schlafkameraden, mit denen ich in jener ersten Nacht die Zelle teilte, auf deren Schlafatem ich lauschte, während Scham, Reue und Zorn mein Herz zerrissen. Vor den Fenstern stand die Nacht, manchmal hob ich den Kopf und sah ein paar Sterne blinken; ich hatte mal ein Gedicht von ihnen gelesen, dass sie seit Jahrtausenden mit dem gleichen kühlen Glitzern auf menschliches Leid und menschliche Freude herabblicken. Damals hatte mich das nicht berührt, jetzt rührte es mich an, und ich fragte mich, ob diese Sterne wohl wirklich je ein so verzweifeltes, ein so unsinnig eingetretenes Leid gesehen hatten wie das über mich gekommene. Beinahe schien es mir unmöglich.
Und wie die nächtlichen Stunden langsam mit Glockenschlag um Glockenschlag vorrückten, eine nach der anderen dem neuen Morgen zu, dachte ich milder an Magda und den listigen Medizinalrat und schwor es mir wieder einmal zu, das nächste Mal klüger zu sein und wahrhaftiger. Ich überzeugte mich, dass noch nichts verloren war, und ich erdichtete lange Gespräche mit dem Arzt, in denen ich eine seltene Schlagfertigkeit und einen bezaubernden Freimut bewies. Schließlich – anderthalb Stunden vor Aufschluss – schlief ich wirklich noch ein.
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