»Ja, entlassen«, sagte er erbarmungslos, »in die Heilanstalt. Los, los, Mann, packen Sie Ihre Sachen zusammen! Denken Sie, wir haben so viel Zeit für Sie?«
»Ach so«, sagte ich langsam und fing an zu packen. »Ach so – in eine Heilanstalt.«
Der Düstermann sah mir scharf auf die Finger, dass ich auch nichts von seinem kostbaren Eigentum einpackte, und dabei redete er auf den Wachtmeister ein, wie froh er sei, dass ich fortkomme, ich sei der schlechteste Zellengenosse von der Welt gewesen, nie habe ich ein vernünftiges Wort geredet, und mein Krachmachen des Nachts sei einfach unerträglich gewesen. Ich bin ohne ein Wort von ihm gegangen, ich habe ihn nicht einmal mehr angesehen.
Unten, im Büro des Inspektors, stand ein fremder Wachtmeister, und er sah mich prüfend an, und ich sah wohl, dass er bei meinem Anblick das Gesicht verzog. Ich trug noch meinen Nasenverband.
»Ja«, sagte der Inspektor, »das ist der Mann, dem ein anderer Gefangener die Nase hat abbeißen wollen. Sie haben wohl davon gehört, Wachtmeister?«
Der hatte davon gehört.
Der Inspektor setzte hinzu: »Es ist aber soweit ein ganz ordentlicher, ruhiger Mann, ich glaube, Sie können ihm die Kette ersparen, Wachtmeister.«
»Nein, nein!«, sagte der Wachtmeister eifrig. »Ich bin für den Mann verantwortlich, nachher läuft er mir fort …«
»Das tun Sie, Wachtmeister, wie Sie es für richtig halten«, sagte der Inspektor wieder. »Ich habe bloß meine Meinung gesagt. Hören Sie, Sommer«, wandte er sich nun an mich, »quittieren Sie hier mal, dass Sie all Ihre Sachen von uns zurückerhalten haben. Ihr Geld schicken wir Ihnen mit der Post nach …«
»Senden Sie es bitte an meine Frau«, sagte ich mit plötzlichem Entschluss. »Ich brauche kein Geld mehr.«
»Auch gut«, sagte der Inspektor gleichmütig, und damit war ich entlassen.
Der Wachtmeister legte mir das Kettchen um das Handgelenk, und so bin ich denn durch meine Vaterstadt zum Bahnhof geführt worden, es hat mich aber nicht geniert. Wie gesagt, ich trug noch meinen Nasenverband; selbst Magda hätte mich nicht erkannt.
Ich sah manchen auf der Straße, mit dem ich mich sonst gegrüßt hätte, und mancher oder manche sah mich an, aber es betraf mich alles nicht mehr so recht. Als mein eigenes Gespenst ging ich durch die Stadt, in der ich einstens geboren wurde, auf deren Gassen ich als Kind gespielt hatte; auf der Bank dort drüben hatte ich einmal mit Magda gesessen, damals trug sie noch einen Zopf, und wir hatten beide Schultaschen unter dem Arm …
Nun gingen wir an meinem eigenen Geschäft vorüber, »Erwin Sommer, Landesprodukte en gros und en détail« stand noch auf den Milchglasscheiben – wie lange noch? Und am Kettchen geführt, einen Handkoffer in der freien Hand, ging derselbe Erwin Sommer daran vorbei, lebendig und doch schon gestorben für all dies, noch gab es Spuren seines Lebens – wie lange noch?
»Ich bin erst einundvierzig Jahre alt«, sagte ich zu meinem Transporteur.
»Was meinen Sie denn damit?«, fragte der junge Beamte streng. »Was wollen Sie denn damit sagen?«
»Ach, nichts weiter, Herr Wachtmeister«, antwortete ich. »Aber, wenn man mit einundvierzig Jahren bei lebendigem Leibe schon tot und gestorben sein soll …«
»Ach was, machen Sie sich doch nicht solche Gedanken«, sagte der Wachtmeister friedlich. »In der Heilanstalt, wohin ich Sie bringe, haben Sie es doch besser als im Kittchen, und Sie machen doch einen ganz vernünftigen Eindruck, vielleicht kommen Sie auch noch mal wieder raus. – Wissen Sie was?« fuhr er immer menschlicher fort, »wenn wir nachher im Zuge sitzen, nehme ich Ihnen auch die Kette ab, und draußen lege ich sie Ihnen auch nicht wieder an. Es ist doch bloß hier in der Stadt; man weiß doch nie, was euch Brüdern plötzlich durch den Kopf fährt.«
Ich schwieg. Er meinte es gut, aber er ahnte nicht, wie gleichgültig mir das Kettchen war. Aber er hatte bei seinen ungeschickten Trostversuchen ein Wort gesagt, das mich in meiner niedergedrückten Stimmung wie ein Blitz getroffen hatte. »Vielleicht kommen Sie auch noch einmal wieder raus«, hatte er gesagt! Vielleicht … auch noch einmal wieder … Und ich hatte mit einer sechswöchigen Unterbringung zur Beobachtung gerechnet, so hatte mich Mordhorst belehrt. Vielleicht … auch noch mal wieder … War das nur so dahingeredet von dem Wachtmeister, oder wusste der Mann wirklich etwas? Er hatte ja meine Papiere! Natürlich wusste er was: Ich sollte eingesperrt werden auf Lebenszeit! Wirklich lebendig gestorben, wie ich eben gefühlt hatte. Wie ein Schleier lag es vor meinen Augen, und die Sonne, durch die wir gingen, die allen schien, mir schien sie nicht mehr. Nie wieder schien sie mir. Oh, diese Angst …
Wir wandern gemeinsam eine schöne Landstraße entlang, der Wachtmeister und ich. Von dem Kettchen bin ich nun wirklich befreit, das hat den Vorteil, dass ich nun den gar nicht leichten Koffer mal rechts, mal links tragen kann. Der Wachtmeister hat sich eine kurze Pfeife angebrannt und hat auch mir gnädig die Erlaubnis gegeben, zu rauchen. Da ich aber nicht das geringste Rauchbare besitze, hilft mir diese Erlaubnis nichts. Außerdem ging’s wohl schlecht mit der zerbissenen Nase.
An der Straße stehen hohe, alte Kastanienbäume, sie haben schon ausgeblüht. Die Sonne sinkt, ab und zu knarrt ein verspätetes Heufuder 1an uns vorbei. Die Leute wenden kaum die Köpfe nach uns, sie sind hier in der nächsten Nähe der Heilanstalt solche Transporte längst gewöhnt. Höchstens, dass eine Frau einmal einen neugierigen Blick auf mein verbundenes Gesicht wirft.
Der Wachtmeister hat mich nach meinem »Verbrechen« und nach meinem »Vorleben« ausfragen wollen, aber ich habe ihm nur einsilbig geantwortet. Da er aber entschlossen ist, uns den Weg durch ein Gespräch zu kürzen, erzählt jetzt er mir von sich, das heißt von einem Garten, den er mit seiner jungen Frau bestellt. Und er möchte nun so gerne noch ein angrenzendes Stück Land dazu pachten und trägt mir nun, behaglich erwägend, alle Gründe für und wider vor, das geringe Gehalt und die teure Pacht, den verunkrauteten Boden, die zweifelhafte Ernte – ach, es gibt eigentlich nur Gründe dawider. Der Wachtmeister stößt eine bläulich-weißliche Tabakwolke aus und sagt abschließend: »Also, ich pachte das Stück unter allen Umständen. Ein Stück Land – das ist besser als tausend Mark auf der Sparkasse!«
Ich höre nur halb hin auf sein Geschwätz, und nur, als er jetzt zu seinem überraschenden Schluss kommt, lächle ich bitter. Mit solchen Strohköpfen muss ich also nun umgehen von jetzt an, und sie sagen einfach »Sommer« zu mir, ohne »Herr«, und bestätigen mir gütigst, dass ich »soweit einen ganz vernünftigen Eindruck« mache! Laut aber frage ich: »Ist das die Heilanstalt?«
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