»Nein, ich verliere nichts, Herr Rat.« Und plötzlich leise: »Was ist es?«
Und er noch leiser: »Gift, Ihr Mann hat es auch.«
Sie nickt.
Der Beamte am Fenster dreht sich um. Er sagt mahnend: »Hier darf nur laut gesprochen werden, sonst ist gleich Schluss. Übrigens«, er befragt seine Uhr, »ist die Besuchszeit sowieso in anderthalb Minuten um.«
»Ja«, sagt sie nachdenklich. »Ja«, und plötzlich weiß sie, wie sie es sagen soll. Sie fragt: »Und glauben Sie, dass Otto bald verreisen wird – vor seiner großen Reise noch? Glauben Sie das?«
Ihr Gesicht drückt jetzt so sehr schmerzliche Unruhe aus, dass selbst der stumpfe Beamte merkt, es geht hier um ganz andere Dinge, als gesprochen wird. Einen Augenblick will er einschreiten, aber dann sieht er diese alternde Frau an und diesen Herrn mit dem weißen Spitzbart, der laut Besuchsschein Kammergerichtsrat ist – der Beamte hat eine großmütige Anwandlung und sieht wieder aus dem Fenster.
»Ja, das ist schwer zu sagen«, antwortet der Rat vorsichtig. »Mit dem Reisen ist es ja jetzt auch schwierig.« Und ganz rasch, flüsternd: »Warten Sie bis zur allerletzten Minute, vielleicht sehen Sie ihn noch vorher. Ja?«
Sie nickt, sie nickt wieder.
»Ja«, antwortet sie laut. »So ist es wohl das Allerbeste.«
Und dann stehen sich die beiden stumm gegenüber, plötzlich fühlen sie, sie haben sich nichts mehr zu sagen. Zu Ende. Vorbei.
»Ja, ich glaube, ich muss dann gehen«, sagt der alte Rat.
»Ja«, flüstert sie zurück, »ich glaube, es wird Zeit.«
Und plötzlich – der Aufseher hat sich schon umgewendet und sieht, mit der Uhr in der Hand, auffordernd die beiden an – überkommt es Frau Quangel. Sie presst den Körper gegen das Gitter, sie flüstert, den Kopf an den Gitterstäben: »Bitte, bitte – Sie sind vielleicht der letzte anständige Mensch auf der Welt, den ich zu sehen bekomme. Bitte, Herr Rat, geben Sie mir einen Kuss! Ich werde die Augen zumachen, ich werde glauben, es ist Otto …«
Mannstoll!, denkt der Aufseher. Soll hingerichtet werden und noch immer mannstoll! Und so ein oller …
Aber der alte Rat sagt mit sanfter, freundlicher Stimme: »Nicht bange sein, Kind, nicht bange sein …«
Und seine alten, dünnen Lippen berühren sanft ihren trockenen, rissigen Mund.
»Nicht bange sein, Kind. Sie haben den Frieden bei sich …«
»Ich weiß«, flüstert sie. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Rat.«
Dann ist sie wieder in ihrer Zelle, die Bindfäden liegen unordentlich am Boden, und sie geht hin und her, sie ungeduldig mit den Füßen in die Ecken stoßend, wie in ihren schlimmsten Tagen. Sie hat den Zettel gelesen, sie hat ihn verstanden. Sie weiß nun, Otto wie sie haben eine Waffe, sie können jederzeit dieses jammervolle Leben von sich werfen, wenn es gar zu unerträglich wird. Sie braucht sich nicht mehr quälen zu lassen, sie kann jetzt, in dieser Minute, da noch ein bisschen Glück von dem Besuch in ihr ist, ein Ende machen.
Sie wandert, sie redet mit sich, sie lacht, sie weint.
An der Tür lauschen sie. Sie sagen: »Jetzt fängt sie richtig an zu spinnen. Ist die Tobjacke bereit?«
Die Frau drinnen merkt nichts davon, sie kämpft ihren schwersten Kampf. Sie sieht den alten Rat Fromm wieder vor sich, sein Gesicht war so ernst, als er sagte, sie möge bis zur allerletzten Minute warten, vielleicht bekomme sie ihren Mann doch noch einmal zu sehen.
Und sie hat ihm zugestimmt. Natürlich ist es das Richtige, sie muss warten, Geduld üben, vielleicht dauert es noch Monate. Aber seien es auch nur noch Wochen, es ist so schwer, jetzt noch zu warten. Sie kennt sich doch, wieder wird sie verzweifeln, lange weinen, in Trübsinn verfallen, alle sind so hart mit ihr, nie ein gutes Wort, nie ein Lächeln. Die Zeit wird kaum zu ertragen sein. Sie braucht nur ein bisschen zu spielen, mit der Zunge und mit den Zähnen, es braucht ja noch gar nicht Ernst zu sein, nur so ein bisschen probieren, und schon ist es geschehen. Es ist ihr jetzt so leicht gemacht – es ist ihr zu leicht gemacht!
Das ist es. In irgendeiner Stunde wird sie schwach sein, sie wird es tun, und in dem Augenblick, da sie es getan hat, in dem ganz kleinen Augenblick zwischen Tat und Tod wird sie es bereuen, wie sie nie etwas im Leben bereut hat: sie hat sich der Aussicht beraubt, ihn noch einmal wiederzusehen, weil sie feige und schwach war. Man wird ihm die Nachricht von ihrem Tode bringen, und er wird erfahren, dass sie ihn verlassen hat, dass sie ihn verraten hat, dass sie feige war. Und er wird sie verachten, er, dessen Achtung ihr allein auf der Welt etwas gilt.
Nein, sie muss diese unselige Glasröhre auf der Stelle zerstören. Morgen früh kann es vielleicht zu spät sein, wer weiß, in welcher Stimmung sie morgen früh aufwacht.
Aber auf dem Wege zum Kübel hält sie inne …
Und wieder nimmt sie ihre Wanderung auf. Plötzlich hat sie sich erinnert, dass sie sterben muss und wie sie sterben muss. Sie hat es ja gehört in diesem Gefängnis bei ihren Fenstergesprächen, dass es nicht der Galgen sein wird, der sie erwartet, sondern das Fallbeil. Sie haben es ihr gerne geschildert, wie man sie auf den Tisch schnallen wird, auf dem Bauche liegend, wird sie in einen mit Sägemehl halbgefüllten Korb starren, und auf dieses Sägemehl fällt in wenigen Sekunden ihr Kopf. Man wird ihren Nacken entblößen, und über diesem Nacken wird sie die Kälte des Fallbeils spüren, noch ehe es zu stürzen beginnt. Dann wird das Sausen immer lauter werden, es wird in ihren Ohren dröhnen wie die Trompete des Jüngsten Gerichts, und dann wird ihr Körper nur ein zuckendes Etwas sein, dessen Halsstumpf dicke Strahlen Blut ausspeit, während der Kopf im Korbe vielleicht nach dem blutspeienden Halse glotzt und noch sehen kann, fühlen kann, leiden kann …
So haben sie es ihr erzählt, und so hat sie es sich viele hundert Male vorstellen müssen, und davon hat sie geträumt manches Mal, und von all diesen Schrecknissen kann ein einziger Biss auf das Glasröhrchen sie befreien! Und das soll sie von sich tun, diese Erlösung soll sie aufgeben? Sie hat die Wahl zwischen einem leichten Tod und einem schweren Tod – und sie soll den schweren Tod wählen, bloß weil sie Furcht hat, schwach zu werden, vor Otto zu sterben?
Sie schüttelt den Kopf, nein, sie wird nicht schwach werden. Sie kann das doch, warten bis zur letzten Minute. Sie will Otto wiedersehen. Sie hat die Angst ausgehalten, die sie immer ergriff, wenn Otto die Karten ablegte, sie hat den Schreck der Verhaftung ausgehalten, sie hat die Quälereien des Kommissars Laub überstanden, sie hat Trudels Tod verwunden – sie wird doch noch warten können, ein paar Wochen, ein paar Monate! Sie hat alles ertragen – auch dies wird sie ertragen! Natürlich muss sie das Gift aufbewahren bis zur letzten Minute.
Sie wandert auf und ab, auf und ab.
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