Quangel sah den Geistlichen aufmerksam an. Er sagte: »Er war ein sehr guter Mann. Viele Gefangene werden mit Dankbarkeit an ihn denken.«
»Ja«, rief der Pastor in unverhülltem Ärger. »Weil er euren Lüsten nachgegeben hat! Er war ein sehr schwacher Mann, Quangel. Der Diener Gottes hat ein Kämpfer zu sein in diesen Kriegszeiten, kein flauer Kompromissmacher!« Er besann sich wieder. Er sah hastig auf die Uhr und sagte: »Ich habe nur noch acht Minuten für Sie, Quangel. Ich habe noch einige Ihrer Leidensgefährten, die gleich Ihnen heute den letzten Gang antreten, mit meinem geistlichen Trost zu versehen. Wir wollen jetzt beten …«
Der Geistliche, dieser starkknochige, grobe Bauer, hatte ein weißes Tuch aus der Tasche gezogen und entfaltete es behutsam.
Quangel fragte: »Versehen Sie auch die hinzurichtenden Frauen mit Ihrem geistlichen Trost?«
Sein Spott war so undurchdringlich, dass der Pastor nichts von ihm merkte. Er breitete das schneeweiße Tuch auf dem Zellenboden aus und antwortete dabei gleichgültig: »Es finden heute keine Hinrichtungen von Frauen statt.«
»Erinnern Sie sich vielleicht«, fragte Quangel hartnäckig weiter, »ob Sie in der letzten Zeit bei einer Frau Anna Quangel gewesen sind?«
»Frau Anna Quangel? Das ist Ihre Frau? Nein, bestimmt nicht. Ich würde mich erinnern. Ich habe ein ungewöhnlich gutes Namengedächtnis …«
»Ich habe eine Bitte, Herr Pastor …«
»Nun, sagen Sie schon, Quangel! Sie wissen, meine Zeit ist knapp!«
»Ich bitte Sie, meiner Frau, wenn es so weit ist, nicht zu sagen, dass ich vor ihr hingerichtet worden bin. Sagen Sie ihr bitte, dass ich in der gleichen Stunde mit ihr sterbe.«
»Das wäre eine Lüge, Quangel, und ich als Diener Gottes darf mich nicht gegen sein achtes Gebot vergehen.«
»Sie lügen also nie, Herr Pastor? Sie haben noch nie in Ihrem Leben gelogen?«
»Ich hoffe«, sagte der Pastor, verwirrt unter dem spöttisch musternden Blick des anderen, »ich hoffe, dass ich mich stets nach meinen schwachen Kräften bemüht habe, Gottes Gebote zu halten.«
»Und Gottes Gebote verlangen also von Ihnen, meiner Frau den Trost, dass sie in der gleichen Stunde mit mir stirbt, zu versagen?«
»Ich darf nicht falsch Zeugnis reden wider meinen Nächsten, Quangel!«
»Schade, schade! Sie sind wirklich nicht der gute Pastor.«
»Wie?«, rief der Geistliche, halb verwirrt, halb drohend.
»Herr Pastor Lorenz hieß im Gefängnis nur der gute Pastor«, erklärte Quangel.
»Nein, nein«, rief der Pastor zornig, »ich sehne mich nicht nach einem solchen von euch gespendeten Ehrennamen! Ich würde das einen Unehrennamen heißen!« Er besann sich. Mit einem Plumps fiel er auf die Knie, genau auf das weiße Taschentuch. Er deutete auf eine Stelle des dunklen Zellenbodens neben sich (denn das weiße Tuch reichte nur für ihn aus): »Knien Sie auch nieder, Quangel, wir wollen beten!«
»Vor wem soll ich knien?«, fragte Quangel kalt. »Zu wem soll ich beten?«
»Oh!«, brach der Pastor ärgerlich aus, »fangen Sie doch nicht schon wieder damit an! Ich habe schon viel zu viel Zeit an Sie verschwendet!« Er sah kniend zu dem Mann mit dem harten, bösen Gesicht auf. Er murmelte: »Gleichviel, ich werde meine Pflicht tun. Ich werde für Sie beten!«
Er senkte den Kopf, faltete die Hände, und seine Augen schlossen sich. Dann stieß er den Kopf vor, öffnete die Augen weit und schrie plötzlich so laut, dass Quangel erschrocken zusammenfuhr: »O Du mein Herr und mein Gott! Allmächtiger, allwissender, allgütiger, allgerechter Gott, Richter über Gut und Böse! Ein Sünder liegt hier vor Dir im Staube, ich bitte Dich, Du wollest die Augen in Barmherzigkeit wenden auf diesen Menschen, der viele Missetat begangen hat, ihn erquicken an Leib und Seele und ihm alle seine Sünden in Gnaden vergeben …«
Der kniende Pastor schrie noch lauter: »Nimm an das Opfer des unschuldigen Todes Jesu Christi, Deines lieben Sohnes, für die Bezahlung seiner Missetat! Er ist ja auch auf desselbigen Namen getauft und mit desselbigen Blut gewaschen und gereinigt. So errette ihn nun von des Leibes Qual und Pein! Verkürze ihm seine Schmerzen, erhalte ihn wider die Anklage des Gewissens! Verleihe ihm eine selige Heimfahrt zum ewigen Leben!«
Der Geistliche senkte seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern: »Schicke Deine heiligen Engel her, dass sie ihn begleiten zur Versammlung Deiner Auserwählten in Christo Jesu, unserm Herrn.«
Der Pastor rief wieder sehr laut: »Amen! Amen! Amen!«
Er stand auf, faltete das weiße Tuch sorgfältig wieder zusammen und fragte, ohne Quangel anzusehen: »Es ist wohl vergeblich, dass ich Sie frage, ob Sie bereit sind, das heilige Abendmahl einzunehmen?«
»Völlig vergeblich, Herr Pastor.«
Der Pastor streckte zögernd seine Hand gegen Quangel aus.
Quangel schüttelte den Kopf und legte seine Hände auf den Rücken.
»Auch das ist vergeblich, Herr Pastor!«, sagte er.
Der Pastor ging, ohne ihn anzusehen, zur Tür. Er wandte sich noch einmal um, warf einen flüchtigen Blick auf Quangel und sagte: »Nehmen Sie noch diesen Spruch mit zur letzten Richtstätte, Philipper 1,21: Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.«
Die Tür klappte, er war gegangen.
Quangel atmete auf.
Der Geistliche war kaum gegangen, da trat ein kleiner, untersetzter Mann in einem hellgrauen Anzug in die Zelle. Er warf einen raschen, scharf prüfenden, klugen Blick auf Quangels Gesicht, ging dann auf ihn zu und sagte: »Dr. Brandt, Gefängnisarzt.« Er hatte dabei Quangels Hand geschüttelt und behielt sie nun in der seinen, während er sagte: »Darf ich Ihnen den Puls fühlen?«
»Immer zu!«, sagte Quangel.
Der Arzt zählte langsam. Dann ließ er die Hand Quangels los und sagte beifällig: »Sehr gut. Ausgezeichnet. Sie sind ein Mann.«
Er warf einen raschen Blick zur Tür, die halb offengeblieben war, und fragte flüsternd: »Kann ich was für Sie tun? Was Betäubendes?«
Quangel bewegte verneinend den Kopf. »Ich danke schön, Herr Doktor. Es wird auch so gehen.«
Seine Zunge berührte die Ampulle. Er überlegte einen Augenblick, ob er dem Arzt noch irgendeinen Auftrag an Anna geben sollte. Aber nein, dieser Pastor würde ihr doch alles erzählen …
»Sonst etwas?«, fragte der Arzt flüsternd. Er hatte Quangels Schwanken sofort bemerkt. »Vielleicht ein Brief zu bestellen?«
»Ich habe hier kein Schreibzeug – ach nein, ich will es auch lassen. Ich danke Ihnen jedenfalls, Herr Doktor, wieder ein Mensch mehr! Gottlob sind auch in solch einem Bau nicht alle schlecht.«
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