Und dann dachte sie an die gemeinsame Arbeit mit Otto, an den Kampf, den sie beide über zwei Jahre in aller Stille geführt hatten. Die Sonntage kamen ihr in Erinnerung, wenn sie gemeinsam am Tisch in der Stube saßen, sie in der Sofaecke, Strümpfe stopfend, und er auf seinem Stuhl, sein Schreibzeug vor sich, gemeinsam Sätze formulierend, gemeinsam Träumen von großem Erfolg nachhängend. Verloren, vorbei, alles verloren, alles vorbei! Einsam in der Zelle, nur noch den nahen, gewissen Tod vor sich, ohne Wort von Otto, vielleicht nie wieder sein Gesicht – allein zum Sterben, allein im Grabe …
Sie geht stundenlang in der Zelle auf und ab, sie erträgt es nicht. Sie hat ihre Arbeit vergessen, die Bindfadenknäuel liegen noch immer verknotet und verwirrt auf der Erde, sie stößt sie mit dem Fuße fort, ungeduldig – und als die Wärterin die Zelle am Abend aufschließt, ist nichts getan. Es gibt harte Worte, aber sie hört gar nicht hin, mögen die doch mit ihr machen, was sie wollen, mögen die sie doch schnell hinrichten – umso besser!
»Passt auf, was ich euch sage«, sagt die Aufseherin ihren Kolleginnen. »Die fängt bald an zu spinnen, haltet immer schon eine Tobjacke bereit. Und seht oft nach ihr rein, die ist imstande und baumelt sich am hellerlichten Tage, im Handumdrehen baumelt sie sich auf, und wir haben nachher die Scherereien!«
Aber darin hat die Aufseherin unrecht: an Aufbaumeln denkt Anna Quangel nicht. Was sie am Leben erhält, was selbst dieses niedere Dasein ihr lebenswert erscheinen lässt, das ist der Gedanke an Otto. Sie kann doch nicht so von hier fortgehen, sie muss warten, vielleicht bekommt sie eine Nachricht von ihm, vielleicht wird ihr sogar erlaubt, ihn noch einmal vor ihrem Tode wiederzusehen.
Und dann, eines Tages unter diesen trüben Tagen, scheint das Glück ihr zu lächeln. Eine Wärterin öffnet plötzlich die Zellentür: »Mitkommen, Quangel! Besuch!«
Besuch? Wer soll mich hier besuchen? Ich habe doch keinen, der mich hier besuchen kann. Es wird Otto sein! Es muss Otto sein! Ich fühle es, das ist Otto!
Sie wirft einen Blick auf die Wärterin, sie möchte ihr so gerne die Frage nach dem Besucher stellen, aber es ist gerade eine Wärterin, mit der sie ständig Streit gehabt hat, sie kann diese Frau nicht fragen. Sie folgt ihr, am ganzen Leibe zitternd, sie sieht nichts, sie weiß nicht, wohin sie gehen, sie erinnert sich nicht mehr, dass sie bald sterben muss – sie weiß nur, sie geht zu Otto, zu dem einzigen Menschen auf der ganzen Welt …
Die Wärterin übergibt die Gefangene 76 einem Wachtmeister, sie wird in eine Stube geführt, die durch ein Gitter in zwei Hälften geteilt ist, auf der anderen Seite des Gitters steht ein Mann.
Und alle Freude fällt von Anna Quangel ab, als sie diesen Mann sieht. Es ist nicht Otto, es ist nur der alte Kammergerichtsrat Fromm. Da steht das Männlein, sieht ihr entgegen mit seinen blauen Augen, die von einem Fältchenkranz umgeben sind, und sagt: »Ich wollte doch mal nach Ihnen sehen, Frau Quangel.«
Der Aufsichtsbeamte hat sich ans Gitter gestellt, er betrachtet nachdenklich die beiden. Dann wendet er sich gelangweilt ab und geht ans Fenster.
»Schnell!«, flüstert der Rat und hält ihr durchs Gitter etwas hin.
Instinktiv fasst sie zu.
»Stecken Sie es weg!«, flüstert er.
Und sie verbirgt das weiße Röllchen.
Ein Brief von Otto, denkt sie, und ihr Herz klopft wieder freier. Die Enttäuschung ist überwunden.
Der Beamte hat sich wieder umgedreht und sieht vom Fenster her auf die beiden.
Endlich findet Anna ein paar Worte. Sie begrüßt den Kammergerichtsrat nicht, sie sagt keinen Dank, sie stellt die einzige Frage, die sie noch auf der Welt interessiert: »Haben Sie Otto gesehen, Herr Kammergerichtsrat?«
Der alte Herr wiegt den klugen Kopf hin und her. »Nicht in der letzten Zeit«, antwortet er. »Aber ich habe durch Freunde gehört, dass es ihm gut geht, sehr gut. Er hält sich wunderbar.«
Er bedenkt sich und setzt nach einem kurzen Zögern hinzu: »Ich glaube, ich darf Sie von ihm grüßen.«
»Danke«, flüstert sie. »Danke sehr.«
Viele verschiedene Empfindungen sind bei seinen Worten durch sie gelaufen. Wenn er ihn nicht gesehen hat, kann er auch keinen Brief von ihm haben. Aber nein, er spricht von Freunden; vielleicht bekam er durch die Freunde einen Brief? Und die Worte »Er hält sich wunderbar« geben ihr Glück und Stolz … Und dieser Gruß von ihm, dieser Gruß zwischen den Eisen- und Steinzellen, dieser Frühling zwischen Mauern! O herrlich, herrlich, ein herrliches Leben!
»Sie sehen aber nicht gut aus, Frau Quangel«, sagt der alte Rat.
»Ja?«, fragt sie, ein wenig verwundert, geistesabwesend. »Aber mir geht es gut. Sehr gut. Sagen Sie das Otto. Bitte, sagen Sie es ihm! Vergessen Sie nicht, ihn von mir zu grüßen. Sie werden ihn doch sehen?«
»Ich denke, ja«, antwortet er zögernd. Er ist so penibel, der kleine, ordentliche Herr. Die kleinste Unwahrheit dieser Sterbenden gegenüber widerstrebt ihm. Sie ahnt es ja nicht, welche Listen er hat aufwenden, welcher Intrigen er hat anzetteln müssen, um diese Besuchserlaubnis zu erhalten! Dass er seine sämtlichen Beziehungen hat einspannen müssen! Für die Welt ist Anna Quangel ja tot – kann man denn Tote besuchen?
Aber er wagt ihr nicht zu sagen, dass er Otto Quangel in diesem Leben nie wiedersehen wird, dass er nichts von ihm gehört hat, dass er eben gelogen hat mit seinem Gruß, um dieser völlig verfallenen Frau doch ein wenig Mut zu geben. Manchmal muss man eben auch Sterbende belügen.
»Ach!«, sagt sie plötzlich ganz lebhaft, und – siehe! – ihre blassen, eingefallenen Wangen röten sich. »Sagen Sie Otto doch, wenn Sie ihn sehen, dass ich alle Tage, dass ich jede Stunde an ihn denke und dass ich bestimmt weiß, ich werde ihn noch sehen, ehe ich sterbe …«
Der Aufseher sieht einen Augenblick verwirrt auf die alternde Frau, die hier spricht wie ein junges, verliebtes Mädchen. Altes Stroh brennt am hellsten!, denkt er und geht wieder ans Fenster.
Sie hat nichts davon gemerkt, sie fährt fieberhaft fort: »Und sagen Sie Otto doch auch, dass ich eine schöne Zelle habe für mich ganz allein. Es geht mir gut. Ich denke immer an ihn, und so bin ich glücklich. Ich weiß, dass uns nie etwas trennen kann, nicht Mauern, nicht Gitter. Ich bin bei ihm, jede Stunde bei Tag und bei Nacht. Sagen Sie ihm das!«
Sie lügt, oh, wie sie lügt, um ihrem Otto nur etwas Gutes zu sagen! Sie will ihm Ruhe geben, die Ruhe, die sie nicht eine Stunde gehabt hat, seit sie in diesem Hause ist.
Der Kammergerichtsrat schielt zu dem Aufseher hinüber, der aus dem Fenster starrt, er flüstert: »Verlieren Sie nicht, was ich Ihnen gegeben habe!«, denn Frau Quangel sieht aus, als habe sie die ganze Welt vergessen.
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