Nach den Gewohnheiten des Gestapogefängnisses hatte man sich keineswegs beeilt, die tote Berta aus Annas Zelle zu entfernen. Es konnte wiederum nur Schlamperei, es konnte aber auch beabsichtigte Quälerei sein – jedenfalls lag die Tote schon den dritten Tag in der widerlich süßlich riechenden Zelle, als die Tür aufgeschlossen und gerade jene hineingestoßen wurde, deren Blicken zu begegnen Anna so große Angst hatte.
Trudel Hergesell tat einen Schritt in die Zelle. Ihre Augen sahen noch fast nichts, sie war zu Tode erschöpft, und die Angst um den nicht wieder zum Leben erwachten Karli, von dem man sie eben roh getrennt hatte, machte sie fast besinnungslos. Sie stieß einen leisen Schreckensruf aus, als sie den widerlichen Verwesungsgestank in der Zelle roch, als sie die Tote sah, die da jetzt fleckig und gedunsen auf der Holzpritsche lag.
Sie stöhnte: »Ich kann nicht mehr«, und Anna Quangel bewahrte das Opfer ihres Verrats vor dem Hinstürzen.
»Trudel!«, flüsterte sie an dem Ohr der halb Ohnmächtigen. »Trudel, kannst du mir verzeihen? Ich habe zuerst deinen Namen genannt, weil du doch Ottochens Braut warst. Und dann hat er mit seinen Quälereien alles aus mir herausgeholt. Ich verstehe es selbst nicht mehr. Trudel, sieh mich nicht so an, ich bitte dich! Trudel, solltest du nicht ein Kind bekommen? Habe ich auch das zerstört?«
Während Frau Anna Quangel so sprach, hatte sich Trudel Hergesell aus ihren Armen gelöst und war zum Eingang der Zelle zurückgegangen. Jetzt lehnte sie an der eisenbeschlagenen Tür und sah mit bleichem Gesicht zu der alten Frau hinüber, die sie, durch die Länge der Zelle getrennt, von der anderen Wand her ansah.
»Du warst es, Mutter?«, fragte sie. »Du hast das getan?«
Und mit einem plötzlichen Ausbruch: »Ach, es ist mir wahrhaftig nicht um mich! Aber sie haben mir den Karli ganz zerschlagen, und ich weiß nicht, ob er wieder zur Besinnung kommen wird. Vielleicht ist er jetzt schon tot.«
Die Tränen stürzten aus ihren Augen, als sie rief: »Und ich kann nicht zu ihm! Ich weiß nichts, und vielleicht werde ich Tage und Tage hier sitzen und nichts hören. Er ist dann schon tot und verscharrt, aber in mir lebt er noch immer. Und ein Kind werde ich auch nicht von ihm haben – wie arm ich plötzlich geworden bin! Noch vor ein paar Wochen, ehe ich den Vater traf, hatte ich alles, um glücklich zu sein, und ich war auch glücklich! Und jetzt habe ich nichts mehr. Nichts! Ach, Mutter …«
Und sie setzte plötzlich hinzu: »Aber an der Fehlgeburt bist du nicht schuld, Mutter. Die war schon, als noch nichts geschehen war.«
Plötzlich eilte Trudel Hergesell schwankend durch die Zelle, sie hing ihren Kopf an Annas Brust und klagte: »Ach, Mutter, wie unglücklich bin ich doch geworden! Sage doch du mir, dass Karli es lebend überstehen wird!«
Und Anna Quangel küsste sie – und flüsterte: »Er wird leben, Trudel, und auch du wirst leben! Ihr habt doch nichts Böses getan!«
Eine Weile hielten sie sich umfasst und waren ganz still. Eines ruhte in der Liebe des anderen, ein wenig Hoffnung rührte sich wieder.
Dann schüttelte die Trudel den Kopf, und sie sagte: »Nein, auch wir werden nicht heil davonkommen. Sie haben zu viel herausgefunden. Es ist wahr, was du sagst: eigentlich haben wir nichts Böses getan. Der Karli hat für einen anderen einen Koffer aufbewahrt, ohne zu wissen, was darin ist, und ich habe für den Vater eine Postkarte abgelegt. Aber sie sagen, das ist Hochverrat und kostet den Kopf.«
»Das hat sicher der Laub gesagt, dieser schreckliche Kerl!«
»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber das ist mir auch ganz egal. So sind sie doch alle! Auch die auf der Aufnahme hier, alle sind sie sich gleich. Aber es ist vielleicht ganz gut, dass es so viel ist: Jahre und Jahre in einem Zuchthaus sitzen …«
»Die Herrschaft von denen wird nicht mehr Jahre und Jahre dauern, Trudel!«
»Wer weiß? Und was haben sie alles den Juden und den anderen Völkern antun dürfen – ohne Strafe! Glaubst du wirklich, dass es Gott gibt, Mutter?«
»Ja, Trudel, das glaube ich. Otto wollte es ja immer nicht erlauben, aber das ist mein einziges Geheimnis vor ihm: ich glaube noch an Gott.«
»Ich habe nie so recht an ihn glauben können. Aber es wäre schön, wenn es Gott gäbe, denn dann wüsste ich doch, Karli und ich würden nach dem Tode zusammen sein!«
»Das werdet ihr, Trudel. Sieh einmal, auch Otto glaubt nicht an Gott. Er sagt, er weiß, mit diesem Leben ist alles zu Ende. Aber ich weiß, ich werde mit ihm zusammen sein nach unserm Tode, immer und ewig. Das weiß ich, Trudel!«
Trudel sah zu der Pritsche hinüber mit der stillen Gestalt, sie ängstigte sich.
Sie sagte: »Sie sieht nicht gut aus, diese Frau da! Ich habe Angst, wenn ich sie ansehe, mit ihren Totenflecken und so aufgetrieben! Ich möchte nicht so daliegen, Mutter!«
»Sie liegt schon den dritten Tag so, Trudel, sie holen sie ja nicht weg. Sie sah sehr schön aus, als sie gestorben war, so still und feierlich. Aber jetzt ist die Seele aus ihr entflohen, jetzt liegt sie da wie ein Stück verdorbenes Fleisch.«
»Sie sollen sie fortholen! Ich kann sie nicht ansehen! Ich will diesen Gestank nicht mehr atmen!«
Und ehe Anna Quangel es noch hatte hindern können, war Trudel zur Tür geeilt. Mit den Händen trommelte sie gegen das Eisenblech und schrie: »Aufmachen! Sofort aufmachen! Hört doch!«
Das war verboten, jedes Lärmen war verboten, eigentlich war sogar jedes Sprechen verboten.
Anna Quangel eilte zu Trudel, sie hielt ihre Hände fest, zog sie von der Tür fort und flüsterte angstvoll: »Das darfst du nicht tun, Trudel! Das ist verboten! Sie werden hereinkommen und dich schlagen!«
Aber es war schon zu spät. Das Schloss knackte, und herein stürzte ein riesenlanger SS-Mann mit erhobenem Gummiknüttel. »Was habt ihr hier zu schreien, ihr Nutten?«, brüllte er. »Habt ihr etwa Befehle zu geben, ihr Hurengesindel?«
Die beiden Frauen sahen ihn aus einem Winkel angstvoll an.
Er ging nicht zu ihnen, sie zu schlagen. Er ließ den Totschläger sinken und murmelte:
»Das stinkt ja hier wie ein ganzer Leichenkeller! Wie lange liegt die denn schon hier?«
Er war ein blutjunger Bursche, sein Gesicht war blass geworden.
»Schon den dritten Tag«, sagte Frau Anna. »Ach, seien Sie doch so gut und sehen Sie, dass die Tote aus der Zelle kommt! Man kann hier wirklich nicht mehr atmen!«
Der SS-Mann murmelte etwas und ging aus der Zelle. Aber er verschloss die Tür nicht wieder, er lehnte sie nur an.
Leise schlichen die beiden an die Tür, stießen sie ein wenig weiter auf, nur ein wenig weiter, und atmeten durch den Spalt die aus Desinfektions- und Abortgerüchen gemischte Luft des Ganges wie ein Labsal.
Dann zogen sie sich wieder zurück, denn der junge SS-Mann kam den Gang herauf.
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