Karl Hergesell hatte sich von seinem Wachtmann losgerissen, als an der anderen Stubenwand eine rohe Faust Trudels Mund verschloss. Obwohl er eine Handfessel trug, war es ihm gelungen, den Quäler Trudels zu Boden zu reißen. Sie wälzten sich an der Erde.
Der Kommissar hatte Fabian nur einen Wink gegeben. Der stand über den Kämpfenden, wartete, und nun schlug Fabian drei-, viermal Karl Hergesell auf den Schädel.
Hergesell ächzte, seine Glieder zuckten, dann lag er still zu Trudels Füßen. Sie sah bewegungslos auf ihn herab, ihr Mund blutete.
Während der langen Fahrt in die Stadt hoffte sie vergebens, er werde noch einmal aufwachen, sie könnte ihm noch einmal in die Augen sehen. Nein, nichts.
Nichts hatten sie getan. Und sie waren doch verloren …
54. Otto Quangels schwerste Last
Während der neunzehn Tage, die Otto Quangel im Bunker der Gestapo zubringen musste, ehe er dem Untersuchungsrichter beim Volksgerichtshof ausgeliefert wurde, waren für ihn nicht die Verhöre durch den Kommissar Laub das am schwersten zu Ertragende, trotzdem dieser Mann alle seine nicht geringen Kräfte aufwandte, um den Widerstand Quangels zu brechen, wie er es nannte. Das hieß nichts anderes, als dass er mit all seinen schlimmen Kräften bemüht war, aus dem Häftling ein schreiendes, angstvolles Garnichts zu machen.
Es war auch nicht die ständig wachsende, sehr quälende Sorge um seine Frau Anna, die Otto Quangel so zermürbte. Er sah seine Frau nicht, er hörte nie direkt etwas von ihr. Aber als Laub bei den Vernehmungen den Namen Trudel Baumanns, nein, jetzt Trudel Hergesells nannte, wusste er, seine Frau hatte sich verängstigen lassen, sie war überlistet worden, ein Name war ihr entschlüpft, den sie nie hätte zu nennen brauchen.
Später, als immer klarer wurde, auch Trudel Baumann und ihr Mann waren verhaftet worden, sie hatten ausgesagt, sie waren mit in diesen Strudel gezogen, da haderte er in Gedanken viele Stunden mit seiner Frau. Es war immer sein Stolz gewesen in diesem seinem Leben, ein Mensch ganz für sich allein zu sein, die anderen nicht zu brauchen, ihnen nie lästig zu fallen, und nun waren durch sein Verschulden (denn er fühlte sich voll verantwortlich für Anna) zwei junge Menschen in seine Sachen hereingezogen worden.
Aber der Hader hielt nicht lange an, die Trauer und die Sorge um seine Lebensgefährtin überwogen. Allein mit sich, presste er oft die Nägel in die Handteller, er schloss die Augen, er sammelte alle seine Stärke in sich – und dann dachte er an Anna, er suchte sie sich vorzustellen in ihrer Zelle, und er schickte Kraftströme aus, um ihr neuen Mut zu geben, damit sie nur nicht ihre Würde vergäße, sich nicht demütige vor diesem Elenden, der kaum noch etwas Menschliches hatte.
Diese Sorge um Anna war schwer zu ertragen, aber sie war bei weitem das Schwerste nicht.
Das Schwerste waren auch nicht die fast alltäglichen Einbrüche in die Zelle von betrunkenen SS-Männern und ihren Führern, die ihre Wut und Quälereien an dem Wehrlosen ausließen. Fast alltäglich rissen sie die Zellentür auf, stürzten herein, wild vom Alkohol, nur von der Gier besessen, Blut zu sehen, Menschen verzucken, vergehen zu sehen, sich an der Schwäche des Fleisches zu erbauen. Auch dies war sehr schwer zu ertragen, aber das Schwerste war es noch nicht.
Sondern das Schwerste war, dass er nicht allein in seiner Zelle war, dass er einen Zellengefährten hatte, einen Mitleidenden, einen, der ebenso schuldig sein sollte, einen Mitmenschen. Denn das war ein Mensch, vor dem Quangel ein Grausen ankam, ein wildes, unflätiges Tier, herzlos und feige, zitternd und roh, ein Mensch, den Quangel nicht ansehen konnte, ohne einen tiefen Ekel vor ihm zu empfinden, und dem er doch willfährig sein musste, denn der Mann besaß viel mehr Kräfte als der alte Werkmeister.
Karl Ziemke, von den Wachen Karlchen genannt, war ein etwa dreißigjähriger Mann von herkulischem Körperbau, mit einem runden, bullenbeißerhaften Kopf, in dem sehr kleine Augen saßen, und mit langen, dichtbehaarten Armen und Händen. Seine niedrige, bucklige Stirn, in die stets ein Wisch filziger Haare hing, war von vielen Längsfalten gefurcht. Er sprach nur wenig, und das wenige, was er sprach, war nur Zeterei und Mord. Wie Quangel bald aus den Reden der Wachen erfuhr, war Karlchen Ziemke früher selbst ein prominentes Mitglied der SS gewesen, er hatte eine außerordentliche Henkersmission zu erfüllen gehabt, und wie viele Menschen diese behaarten Tatzen umgebracht hatten, das würde nie zu erfahren sein, denn Karlchen wusste es selbst nicht.
Doch für den Berufsmörder Karlchen Ziemke hatte es selbst in diesen mordlustigen Zeiten oft nicht genug zu morden gegeben, und da war er in solchen beschäftigungslosen Zeiten dazu übergegangen, auch dann Morde zu begehen, wenn sie nicht von seinen Vorgesetzten angeordnet worden waren. Wenn er es dabei auch nicht verschmähte, seinen Opfern Geld und Wertsachen abzunehmen, so war doch nie das Rauben der Grund zu seinen Übeltaten gewesen, sondern stets nur die reine Mordlust. Und schließlich war man ihm darauf gekommen, und da er so ungeschickt gewesen war, nicht nur Juden, Volksfeinde und ähnliches Freiwild umzubringen, sondern auch einwandfreie Arier und darunter sogar einen Parteigenossen, so saß er nun erst einmal hier im Bunker, und es war noch ungewiss, was mit ihm geschehen sollte.
Karlchen Ziemke, der so viele ohne einen schnelleren Herzschlag in den Tod geschickt hatte, war es angst um das eigene kostbare Leben geworden, und in seinem Kopf, der nicht viel mehr Gedanken, als ein fünfjähriges Kind hat, in sich trug, aber sehr viel bösere, war der Gedanke aufgetaucht, dass er sich vor den Folgen seiner Taten retten konnte, wenn er den Wahnsinnigen spielte. Er hatte sich dafür die Rolle eines Hundes ausgedacht. Oder sie war ihm auch von irgendwelchen Kameraden angeraten worden, was das Wahrscheinlichere war, und er führte diese Rolle mit Konsequenz durch, das zeigte, dass sie ihm lag.
Meist lief er völlig nackt auf allen vieren in der Zelle herum, bellte hündisch, fraß aus seiner Schüssel wie ein Hund und legte es immer wieder darauf an, Quangel in die Beine zu beißen. Oder er verlangte von dem alten Werkmeister, dass er ihm stundenlang eine Bürste zuwarf, die Karlchen dann apportierte, wofür er gestreichelt und belobt werden wollte. Oder Quangel musste die Hosen Karlchens wie ein Sprungseil schwingen, worüber dann Karlchen ununterbrochen sprang.
Zeigte sich der Werkmeister nicht willig genug, so überfiel ihn der »Hund«, warf ihn zu Boden und fasste seine Kehle wie ein Hund mit den Zähnen, und nie war es sicher, dass aus dem Spiel nicht Ernst wurde. Die Wachen hatten eine tiefe Freude an den Ergötzungen Karlchens. Oft standen sie lange in der Zellentür und hetzten den Hund, sie machten ihn scharf, und Quangel musste alles über sich ergehen lassen. Kamen sie aber in ihrer betrunkenen Wut, sie an den Gefangenen auszulassen, so warfen sie Karlchen auf die Erde, er breitete seine Arme auf der Erde aus und flehte sie an, ihm die Gedärme aus dem nackten Leib zu treten.
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