Mit diesem Manne war Quangel verurteilt, Tag für Tag, Stunde um Stunde, Minute nach Minute zusammenzuleben. Er, der stets für sich allein gelebt hatte, konnte nun nicht mehr eine Viertelstunde für sich allein sein. Selbst nachts, wenn er den Tröster Schlaf suchte, war er vor seinem Quäler nicht sicher. Plötzlich hockte er an seinem Bett, hatte die Pranke auf Quangels Brust gelegt und verlangte Wasser oder auch einen Platz auf Quangels Lager. Der musste beiseiterücken, er schüttelte sich vor Ekel vor diesem Körper, der nie gewaschen wurde, der haarig war wie der eines Tieres, der aber nichts von der Reinheit und Unschuld der Tiere hatte. Und dann bellte Karlchen leise und fing an, das Gesicht Otto Quangels abzulecken und nach dem Gesicht den ganzen Körper.
Ja, dies war schwer zu ertragen, und oft fragte sich Otto Quangel, warum er es denn eigentlich ertrug, da das Ende doch gewiss war, das nahe Ende. Aber da war ein Widerstand in ihm, sich selbst auszulöschen, Anna zu verlassen, die er doch nicht mehr sah. Da war ein Widerstand in ihm, es denen so leicht zu machen, das Urteil vorwegzunehmen. Sie sollten ihm das Leben absprechen, es ihm nehmen, mit Strick oder Fallbeil, gleichviel. Sie sollten nicht glauben, dass er sich schuldig fühlte. Nein, er wollte ihnen nichts ersparen, und so ersparte er sich Karlchen Ziemke nicht.
Und es war seltsam: je weiter diese neunzehn Tage vorrückten, umso ergebener schien ihm der »Hund« zu werden. Er biss ihn nicht mehr, er warf ihn nicht mehr und fasste ihn an der Kehle. Hatten ihm seine SS-Kameraden einmal einen besseren Bissen zugeteilt, so musste er durchaus geteilt werden, und oft lag der Hund stundenlang mit seinem riesigen Rundschädel im Schoße des alten Mannes, die Augen geschlossen, leise vor sich hin blaffend, während die Finger Otto Quangels durch seine Haare fuhren.
Dann fragte sich der Werkmeister oft, ob dieses Tier über dem Vortäuschen eines Wahnsinns nicht wirklich wahnsinnig geworden war. Aber wenn er’s wirklich war, so waren es seine »freien« Kameraden auf den Gängen des Bunkers auch. Dann änderte es auch nichts, dann waren sie samt ihrem wahnsinnigen Führer und ihrem ständig blöde grinsenden Himmler ein Geschlecht, das ausgelöscht werden musste von dem Antlitz der Erde, damit die Vernünftigen leben konnten.
Als es dann hieß, Otto Quangel käme auf Transport, war Karlchen sehr unglücklich. Er jaulte und wimmerte, er zwang Quangel sein ganzes Brot auf, und als der Werkmeister auf den Gang heraustreten und mit hoch erhobenen Armen das Gesicht gegen die Wand pressen musste, schlüpfte der nackte Mann auf allen vieren aus der Zelle, hockte sich neben ihn und jaulte leise und jammervoll. Dies hatte das Gute, dass die rohen SS-Männer nicht ganz so roh mit Quangel umsprangen wie mit den anderen Transportgefangenen; ein Mann, der die Ergebenheit eines solchen Hundes gewonnen hatte, dieser Mann mit dem kalten, bösen Vogelgesicht machte sogar auf die Henkersknechte Eindruck.
Und als es dann »Abrücken!« hieß, als der Hund Karlchen in seine Zelle zurückgejagt wurde, da war das Gesicht Quangels nicht mehr nur kalt und böse, da empfand er in seinem Herzen einen leichten Druck, etwas wie Bedauern. Der Mann, der in seinem ganzen Leben sein Herz nur an einen Menschen, nämlich an seine Frau, gehängt hatte, sah den vielfachen Mörder, dieses Vieh von einem Menschen, nur ungern aus seinem Leben scheiden.
55. Anna Quangel und Trudel Hergesell
Vielleicht war es nur Schlamperei, dass Anna Quangel als Zellengefährtin nach Bertas Tode Trudel Hergesell bekam. Vielleicht aber war es auch so, dass die dem Herrn Kommissar Laub im Grunde ganz unwichtig waren. Man quetschte aus ihnen heraus, was sie wussten, was sie von ihren Kerlen erfahren hatten, und dann waren sie erledigt. Die wirklichen Verbrecher waren immer die Männer, die Weiber liefen nur so mit, was freilich nicht hinderte, dass sie mit ihren Männern hingerichtet wurden.
Ja, Berta war gestorben, diese Berta, die der Anna ganz harmlos die Anwesenheit ihrer Schwägerin verraten und dadurch den Zorn des Kommissars Laub auf ihr Haupt herabgezogen hatte. Sie war ausgelöscht wie ein Licht, in Anna Quangels Armen war sie, schwächer und schwächer werdend, gestorben, und mit stets leiserer Stimme hatte sie ihre Zellengefährtin nur angefleht, niemanden zu rufen. Berta, wie sie nun weiter heißen und was für ein Verbrechen sie auch begangen haben mochte, war plötzlich still geworden. Ein paarmal hatte es in ihrer Kehle noch gerasselt, sie hatte um Luft gekämpft, und dann war ein Blutstrom gekommen, Blut über Blut; die um die Schultern Annas geklammerten Arme hatten sich gelöst …
Da hatte sie gelegen, sehr weiß und sehr still – und Anna hatte sich voll Kummer gefragt, ob sie nicht mit Schuld an diesem Ende trug. Hätte sie zu dem Kommissar Laub nicht ihre Schwägerin erwähnt! Und dann dachte sie an Trudel Baumann, Trudel Hergesell, sie fing an zu zittern – die hatte sie wirklich verraten! Gewiss, gewiss, Entschuldigungen genug. Wie hatte sie ahnen können, welch Unheil aus der bloßen Erwähnung von Ottochens Braut entstehen würde! Aber dann war es weitergegangen, Schritt um Schritt, und schließlich war der Verrat offensichtlich gewesen, und sie hatte einen Menschen, an dem ihr Herz hing, unglücklich gemacht, und vielleicht nicht nur einen Menschen.
Wenn Anna Quangel daran dachte, sie müsse Trudel Hergesell Auge in Auge entgegentreten, sie werde ihr ins Gesicht ihre verräterischen Worte wiederholen müssen, so zitterte sie. Wenn sie aber an ihren Mann dachte, so war sie verzweifelt. Dann war sie überzeugt, dass dieser gewissenhafte, rechtliche Mann ihr diesen Verrat nie verzeihen würde und dass sie noch vor ihrem nahen Lebensende den einzigen Kameraden verlieren würde.
Wie habe ich nur so schwach sein können, klagte sich Anna Quangel an, und wenn sie zu einem Verhör zu Laub geholt wurde, bat sie bei sich nicht darum, dass er sie nicht quälen möge, sondern sie bat um Stärke, trotz aller Quälereien nichts auszusagen, was andere belasten konnte. Und diese kleine, schmächtige Frau beharrte darauf, ihren Teil der Last zu tragen und mehr als ihren Teil: sie, nur sie allein hatte – bis auf einen oder zwei Fälle – die Postkarten ausgetragen, und nur sie allein hatte sich ihren Inhalt ausgedacht und ihn dem Manne diktiert. Sie allein war die Erfinderin dieser Karten; weil ihr Sohn gefallen war, hatte sie diese Idee gefasst.
Der Kommissar Laub, der wohl merkte, dass ihre Aussagen erlogen waren, dass diese Frau gar nicht fähig zu den Dingen war, die getan zu haben sie behauptete – Kommissar Laub mochte schreien, drohen, quälen, so viel er wollte: sie unterschrieb kein anderes Protokoll, sie nahm nichts von diesen Aussagen zurück, und wenn er ihr zehn Mal bewies, dass sie nicht stimmen konnten. Laub hatte die Schraube überdreht, er war machtlos. Und wenn Anna von einem solchen Verhör wieder in den Keller gebracht wurde, hatte sie ein Gefühl der Erleichterung, als habe sie einen Teil ihrer Schuld abgebüßt, als könne Otto ein wenig zufrieden mit ihr sein. Und der Gedanke wurde stärker in ihr, dass sie vielleicht Ottos Leben retten könnte, wenn sie nur alle Schuld auf sich nahm …
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