Als das Feuer endlich verraucht war, sagte Zott: »Herr Obergruppenführer, da haben wir also diesen Kartenschreiber, einen einfachen, ziemlich ungebildeten Mann, der in seinem Leben nicht viel geschrieben hat und dem es auch ziemlich schwerfällt, sich schriftlich auszudrücken. Er muss Junggeselle oder Witwer sein und ganz allein in seiner Wohnung leben, sonst hätte ihn in diesen zwei Jahren schon längst einmal seine Frau oder Wirtin beim Schreiben ertappt, und es wäre etwas laut geworden. Dass nie etwas über seine Person laut geworden ist, trotzdem, wie anzunehmen, in der Gegend nördlich vom Alexanderplatz viel über diese Karten geschwatzt wird, das beweist, dass ihn nie jemand beim Schreiben gesehen hat. Er muss absolut allein leben. Er muss ein älterer Mann sein – einem jüngeren wäre dieses Schreiben ohne sichtbare Wirkung längst über geworden, und er hätte längst was anderes angefangen. Auch besitzt er keinen Radioapparat …«
»Schön, schön, Herr Kriminalrat!«, unterbrach ihn der Obergruppenführer Prall ungeduldig. »Das alles hat mir genau mit den gleichen Worten schon längst dieser Idiot, der Escherich, erzählt. Was ich brauche, sind neue Auswertungen, Ergebnisse, die mir die Inhaftnahme dieses Burschen ermöglichen. Ich sehe, Sie haben da eine Tabelle. Was ist mit dieser Tabelle?«
»Ich habe da eine Tabelle«, antwortete der Kriminalrat und ließ sich nicht anmerken, wie schwer Prall ihn eben gekränkt hatte, als er alle scharfsinnigen Deduktionen Zotts als schon von Escherich vorgetragen bezeichnet hatte, »ich habe da alle Fundzeiten der Karten aufgezeichnet. Es handelt sich bis heute um zweihundertdreiunddreißig Karten und acht Briefe. Wenn wir uns diese Fundzeiten genauer ansehen, so kommen wir zu folgenden Ergebnissen: Nach acht Uhr abends und vor neun Uhr morgens ist nie eine Karte abgelegt …«
»Aber das ist doch klar wie Kloßbrühe!«, rief der Obergruppenführer ungeduldig. »Weil da die Häuser abgeschlossen sind! Dazu brauche ich wahrhaftig keine Tabellen, um das zu wissen!«
»Einen Augenblick, bitte!«, sagte Zott, und seine Stimme klang jetzt recht ärgerlich. »Ich war mit meinen Feststellungen noch nicht fertig. Im Übrigen werden die Häuser nicht erst morgens um neun Uhr, sondern schon um sieben, oft bereits um sechs Uhr aufgeschlossen. Ich fahre fort: Weiter sind achtzig Prozent der Karten in der Zeit zwischen neun Uhr morgens und zwölf Uhr mittags abgelegt worden. Nie ist eine Karte zwischen zwölf und vierzehn Uhr abgelegt. Dann zwanzig Prozent wieder zwischen vierzehn und zwanzig Uhr. Daraus folgt, dass der Kartenschreiber, der bestimmt mit dem Verteiler identisch ist, regelmäßig von zwölf bis vierzehn Uhr Mittag isst, dass er nachts arbeitet, jedenfalls nie am Vormittag, selten am Nachmittag. Nehme ich eine Fundstelle, sagen wir am Alex, stelle ich fest, dass die Karte um elf Uhr fünfzehn abgelegt worden ist, nehme ich nun die Entfernung, die ein Mann in fünfundvierzig Minuten gehen kann, nämlich bis zwölf Uhr, und schlage ich mit dem Zirkel einen Kreis um die Fundstelle, so treffe ich stets nördlich auf diesen Fleck, der frei von Fähnchen ist. Das trifft mit einigen Einschränkungen, die man darum machen muss, weil nicht jede Fundzeit mit der Ablegezeit identisch ist, auf alle Fundstellen zu. Daraus schließe ich erstens: der Mann ist sehr pünktlich. Zweitens: er liebt es nicht, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Er wohnt in jenem Dreieck, dessen Seiten von der Greifswalder, Danziger und Prenzlauer Straße begrenzt werden, und zwar in dem nördlichen Ende dieses Dreiecks, vermutlich in der Chodowiecki-, der Jablonski- oder der Christburger Straße.«
»Ganz ausgezeichnet, Herr Kriminalrat!«, sagte der Obergruppenführer immer enttäuschter. »Übrigens erinnere ich mich, dass schon Escherich diese Straßen genannt hat. Er meinte nur, eine Haussuchung sei nutzlos. Wie denken Sie über eine Haussuchung?«
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Zott und hob die kleine Hand, die von all dem Aktenpapier, auf dem sie gelegen, etwas Vergilbtes angenommen zu haben schien. Jetzt war er wirklich tief verletzt. »Ich möchte Ihnen meine Ergebnisse genau vortragen, damit Sie es selbst übersehen können, ob die von mir vorzuschlagenden Maßnahmen auch zweckmäßig sind …«
Will sich sichern, der kleine Schlaufuchs!, dachte Prall bei sich. Na warte, bei mir gibt’s keine Sicherungen, und wenn ich mit dir Schlitten fahren will, tu ich’s doch!
»Sehen wir diese Tabelle weiter an«, dozierte der Kriminalrat fort, »so finden wir, dass alle Karten an Wochentagen abgelegt sind. Daraus müssen wir schließen, dass der Mann an Sonntagen seine Wohnung nicht verlässt. Der Sonntag ist sein Schreibetag, was auch dadurch erhärtet wird, dass die meisten Karten am Montag oder Dienstag gefunden werden. Der Mann hat es immer eilig, dieses belastende Material aus dem Haus zu bekommen.«
Der kleine Spitzbauch hob den Finger. »Eine Ausnahme bilden allein die neun Karten, die südlich des Nollendorfplatzes gefunden worden sind. Sie sind alle an Sonntagen abgelegt worden, meist mit fast vierteljährlichem Abstand und stets am späten Nachmittag oder frühen Abend. Woraus zu schließen ist, dass der Schreiber dort einen Verwandten, vielleicht eine alte Mutter, zu wohnen hat, der er in regelmäßigen Abständen einen Pflichtbesuch macht.«
Der Kriminalrat Zott machte eine Pause und sah den Obergruppenführer durch seine goldgeränderte Brille an, als erwarte er ein Wort der Anerkennung.
Aber der sagte nur: »Alles ganz schön und gut. Sicher sehr scharfsinnig. Stimmt sicher alles. Aber ich sehe nicht, wie uns das weiterführt …«
»Ein wenig doch, Herr Obergruppenführer!«, widersprach der Kriminalrat. »Ich werde natürlich in den Häusern der genannten Straßen vertraulich und sehr behutsam nachforschen lassen, ob dort ein Mann wohnt, auf den meine Folgerungen zutreffen.«
»Das wäre doch was!«, rief der Obergruppenführer erleichtert. »Sonst noch was?«
»Ich habe nun«, sagte der Kriminalrat in stillem Triumph und zog eine zweite Karte hervor, »ich habe nun noch eine zweite Tabelle angefertigt, auf der ich mit Kreisen, die einen Durchmesser von einem Kilometer haben, die Hauptfundstellen rot eingekreist habe. Dabei sind die beiden Fundstellen Nollendorfplatz und mutmaßliche Wohnung außer Ansatz geblieben. Sehe ich mir diese elf Hauptfundstellen – es sind elf, Herr Obergruppenführer – genauer an, so mache ich die überraschende Entdeckung, dass sie alle, ausnahmslos alle, an oder in der Nähe von Straßenbahnhöfen liegen. Sehen Sie selbst, Herr Obergruppenführer! Hier! Und hier! Und dort! Da liegt der Bahnhof hier – etwas rechts, fast außerhalb des Kreises, aber immerhin auf seinem Radius. Und nun wieder hier – schön in der Mitte …«
Читать дальше