Und er schrie immer lauter. Die Menschen liefen um sie zusammen, ein Schupo kam eilig über den Damm.
Es war kein Zweifel: Das Spiel stand plötzlich gegen die Quangels. Nachdem der Werkmeister über zwei Jahre lang erfolgreich gearbeitet hatte, war plötzlich das Glück gegen ihn. Ein Misserfolg nach dem anderen. Hierin behielt der ehemalige Kommissar Escherich recht: man kann nicht immer mit Glück spielen, man muss auch das Unglück einkalkulieren. Das hatte Otto Quangel vergessen. Er hatte nie an all die kleinen, widrigen Zufälle gedacht, die das Leben stets bereithält, die man nicht voraussehen kann und mit denen man doch rechnen muss.
In diesem Fall war der Zufall in der Gestalt eines kleinen, rachsüchtigen Beamten aufgetreten, der seinen freien Sonntag dazu benutzt hatte, die Mieterin über ihm zu bespitzeln. Er hatte einen Zorn auf sie, weil sie morgens lange schlief, stets in Männerhosen herumlief und abends bis lange nach Mitternacht das Radio laufen ließ. Er hatte sie im Verdacht, »Kerle« in ihre Wohnung mitzunehmen. Wenn das stimmte, würde er sie im ganzen Hause unmöglich machen. Er würde zum Wirt gehen und ihm sagen, dass solche Nutte unmöglich weiter in einem anständigen Hause wohnen könne.
Er hatte schon über drei Stunden geduldig hinter dem Guckloch der Tür gelauert, als statt seiner Obermieterin Otto Quangel die Treppe hinaufgekommen war. Er hatte gesehen, mit seinen eigenen Augen hatte er es gesehen, wie Quangel die Karte auf einer Treppenstufe niederlegte – er tat das manchmal, wenn die Treppenfenster keine Fensterbänke hatten.
»Ich habe es gesehen, mit meinen eigenen Augen habe ich es gesehen!«, schrie der Aufgeregte den Wachtmeister an und schwenkte die Karte. »Lesen Sie hier bloß mal, Herr Wachtmeister! Das ist ja Hochverrat! Der Kerl gehört an den Galgen!«
»Schreien Sie doch bloß nicht so!«, sagte der Schupo missbilligend. »Sie sehen doch, der andere Herr ist ganz ruhig. Der läuft schon nicht weg. Nun, war es so, wie der Herr sagt?«
»Blödsinn!«, antwortete Otto Quangel böse. »Er hat mich verwechselt. Ich habe eben meinen Schwager zum Geburtstag besucht, in der Goltzstraße. Hier in der Maaßenstraße habe ich kein Haus betreten. Fragen Sie mal meine Frau …«
Er sah sich suchend um. Eben drängte sich Anna wieder durch den dichten Kreis der Neugierigen. Sie hatte sofort an die zweite Karte in ihrer Handtasche gedacht. Sie musste sie auf der Stelle loswerden, das war das Wichtigste. Sie hatte sich durch die Leute geschoben, hatte einen Briefkasten gesehen und ganz unauffällig – alle sahen nur auf den schreienden Ankläger – die Karte in den Kasten gesteckt.
Nun stand sie wieder bei ihrem Mann und lächelte ihm ermutigend zu.
Der Schupo hatte unterdes die Karte gelesen. Sehr ernst geworden, schob er sie unter den Ärmelaufschlag. Er wusste von diesen Karten; jedes Revier war nicht einmal, es war zehnmal auf sie aufmerksam gemacht worden. Die Verfolgung auch der kleinsten Spur war Pflicht.
»Sie kommen alle beide zur Wache mit!«, entschied er.
»Und ich?«, rief Anna Quangel empört und schob ihren Arm in den ihres Mannes. »Ich gehe auch mit! Ich lasse meinen Mann nicht alleine gehen!«
»Haste recht, Mutta!«, sagte eine tiefe Stimme aus dem Zuschauerkreis. »Bei die Brüder weeß man nie – pass man uff uff den Juten!«
»Ruhe!«, schrie der Wachtmeister. »Ruhe! Zurücktreten! Auseinandergehen! Hier gibt’s gar nichts zu sehen!«
Aber das Publikum war anderer Ansicht, und der Schupo, der einsah, dass er unmöglich auf drei Menschen aufpassen und eine Menge von annähernd fünfzig Passanten zerstreuen konnte, gab es auf, die Leute zum Auseinandergehen aufzufordern.
»Irren Sie sich wirklich nicht?«, fragte er den aufgeregten Angeber. »War denn auch die Frau dabei auf der Treppe?«
»Nein, die war nicht dabei. Aber ich irre mich bestimmt nicht, Herr Wachtmeister!« Er fing wieder an zu schreien. »Mit meinen eigenen Augen habe ich ihn gesehen, schon drei Stunden hatte ich am Guckloch in meiner Tür gesessen …«
Eine schrille Stimme rief missbilligend: »So ein verdammter Achtgroschenjunge!«
»Also kommen Sie alle drei mit!«, entschied der Wachtmeister. »Gehen Sie doch auseinander! Sie sehen doch, die Herrschaften wollen durchgehen! So ’ne blöde Neugierde! Ja, bitte, da lang, mein Herr!«
Auf dem Revier mussten sie fünf Minuten warten, ehe sie in das Zimmer des Vorstehers gerufen wurden, eines großen Mannes mit einem gebräunten, offenen Gesicht. Die Karte Quangels lag auf seinem Schreibtisch.
Der Ankläger wiederholte seine Beschuldigungen.
Otto Quangel widersprach. Er hatte nur seinen Schwager in der Goltzstraße besucht, nie hatte er ein Haus in der Maaßenstraße betreten. Er sprach ohne jede Erregung, dieser alte Werkmeister, als der er sich auch auswies, er war ein auch dem Vorsteher wohltuender Gegensatz zu dem schreienden, stets aufgeregten, spuckenden Ankläger.
»Sagen Sie mal«, sagte der Vorsteher langsam zu dem, »wieso haben Sie eigentlich drei Stunden hinter dem Guckloch gestanden? Sie konnten doch gar nicht wissen, dass jemand mit solcher Karte kam. Oder?«
»Ach, da wohnt doch solche Nutte in unserm Haus, Herr Vorsteher! Läuft immer in Hosen rum, lässt die ganze Nacht das Radio laufen – da wollte ich aufpassen, was die für Kerle in die Wohnung schleppt. Und da kam dieser Mann …«
»Bin nie in dem Haus gewesen«, wiederholte Quangel hartnäckig.
»Wie soll denn mein Mann dazu kommen, solche Sachen zu machen? Glauben Sie, ich würde das zugeben?«, rief Anna dazwischen. »Wo wir über fünfundzwanzig Jahre verheiratet sind, und nie hat was gegen meinen Mann vorgelegen!«
Der Vorsteher warf einen flüchtigen Blick auf das starre Vogelgesicht. Zuzutrauen ist dem schon allerhand!, schoss es ihm flüchtig durch den Kopf. Aber dass er solche Karten schreibt?
Er wandte sich dem Ankläger zu: »Wie heißen Sie? Millek? Sie sind doch irgendwas bei der Post, stimmt’s?«
»Oberpostsekretär, Herr Vorsteher. Es stimmt.«
»Und Sie sind doch der Millek, von dem wir in der Woche durchschnittlich zwei Anzeigen bekommen, dass die Kaufleute schlecht wiegen, dass am Donnerstag Teppiche geklopft worden sind, dass jemand sein Geschäft vor Ihrer Tür gemacht hat und so weiter und so weiter. Das sind Sie doch?«
»Die Menschen sind ja so schlecht, Herr Vorsteher! Alles tun sie mir zum Tort! Glauben Sie mir, Herr Vorsteher …«
»Und heute Nachmittag haben Sie also auf eine Frau aufgepasst, die Sie als Nutte bezeichnen, und jetzt zeigen Sie diesen Herrn an …«
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