Bei den Persickes öffnete ihm der Alte. Er sah wüst aus, das graue Haar in Zotteln, das Gesicht gedunsen, die Augen rot, und der ganze Mann schwankend und rollend wie ein Schiff im schweren Sturm.
»Wat willste denn?«
»Nur ’ne kleine Erkundigung einziehen, für die Partei.«
Es war diesen Schnüfflern nämlich strengstens verboten, sich bei ihren Erkundigungen auf die Gestapo zu berufen. Diese ganze Nachfrage sollte wie eine bedeutungslose Erkundigung nach einem Parteimitglied aussehen.
Aber auf den alten Persicke wirkte selbst diese harmlose Auskunft »Erkundigung für die Partei« wie ein Schlag auf den Magen. Er stöhnte und lehnte sich gegen den Türpfosten. In sein blödes, von Alkoholdünsten umnebeltes Hirn kehrte für einen Augenblick etwas Besinnung zurück und – mit der Besinnung – Angst.
Dann raffte er sich auf und sagte: »Komm rein!«
Die Ratte folgte schweigend. Sie beobachtete den alten Mann mit spitzen, flinken Augen. Nichts entging ihr.
In der Stube sah es wüst aus. Umgestürzte Stühle, umgefallene Flaschen, vor deren Hälsen Schnaps stinkend am Boden verdunstete. Eine zusammengeknüllte Schlafdecke auf der Erde. Ein heruntergerissenes Tischtuch. Unter dem Spiegel, der von einem Schlag ein Spinnennetz von Sprüngen aufwies, ein Haufen Glasscherben. Eine zugezogene Gardine und eine herabgerissene Gardine. Und überall Zigarettenstummel, Zigarettenstummel, halb angerissene Packungen mit Rauchwaren.
In den Diebsfingern des Schnüfflers Klebs zuckte es. Am liebsten hätte er jetzt gerafft und gegrapscht: Schnaps, Rauchwaren, Kippen, auch die Taschenuhr dort aus der Weste, die über einem Stuhl hing. Aber er war jetzt nur ein Bote der Gestapo oder der Partei. So setzte er sich brav auf ein Stühlchen und piepste fröhlich: »Ach, hier gibt’s zu trinken und zu rauchen! Du hast’s gut, Persicke!«
Der Alte sah ihn mit einem schweren, trüben Blick an. Dann schob er dem Besucher mit einem Ruck eine halbvolle Flasche Schnaps über den Tisch – Klebs konnte sie grade noch fassen, ehe sie kippte.
»Such dir was zu rauchen!«, murmelte Persicke und sah sich in der Stube um. »Hier muss irgendwas zu rauchen rumliegen.« Und er setzte mit schwerer Zunge hinzu: »Aber Feuer habe ich keines!«
»Mach dir keine Sorgen, Persicke!«, pfiff Klebs beruhigend. »Ich finde schon, was ich brauche. Du wirst ja in der Küche Gas haben und einen Gasanzünder.«
Er tat so, als kennten sie sich schon seit langem. Als seien sie die ältesten Freunde. Ganz selbstverständlich schlich er auf seinen schiefen Beinen in die Küche – dort sah es mit zertrümmertem Geschirr und umgestürzten Möbeln noch schlimmer aus als in der Stube –, fand wirklich den Gasanzünder in all dem Durcheinander und machte sich Feuer.
Er hatte sich gleich drei angebrochene Zigarettenpackungen eingesteckt. Eine davon hatte zwar in Schnaps gebadet, aber das konnte man trocknen. Auf dem Rückweg sah Klebs noch in die beiden anderen Stuben, alles sah völlig verwüstet und verkommen aus. Wie Klebs gleich vermutet hatte, war der alte Mann allein in der Wohnung. Der Schnüffler rieb sich zufrieden die Hände, wobei seine gelbschwarzen Zähne sichtbar wurden. Bei dem würde wohl noch mehr zu holen sein als ein bisschen Schnaps und ein paar Zigaretten.
Der alte Persicke saß noch immer auf demselben Stuhl am Tisch, genau, wie ihn Klebs verlassen hatte. Aber der listige Klebs merkte doch, dass der Alte zwischendurch auf den Beinen gewesen sein musste, denn vor ihm stand jetzt eine volle Schnapsflasche, die vorher nicht zu sehen gewesen war.
Hat also irgendwo noch mehr liegen. Das werden wir schon noch rauskriegen!
Klebs ließ sich mit einem behaglichen Fiepen auf seinem Stuhl nieder, blies seinem Gegenüber einen Schwaden Tabakrauch ins Gesicht, nahm einen Schluck aus der Flasche und fragte harmlos: »Na, was hast du nu auf dem Herzen, Persicke? Immer raus, alter Junge, frei die Brust! Und frisch gewaschen, sonst wirst du erschossen!«
Der alte Mann zitterte bei den letzten Worten. Er hatte nicht erfassen können, in welchem Zusammenhang sie gesprochen waren. Nur dass von Erschießen die Rede war, hatte er begriffen.
»Nein, nein!«, murmelte er ängstlich. »Nicht schießen, nur nicht schießen. Baldur kommt, Baldur macht alles wieder gut!«
Die Ratte ließ es erst einmal unerörtert, wer Baldur war, der alles wiedergutmachende Baldur. »Ja, wenn du’s nur wiedergutmachen kannst, Persicke!«, sagte er vorsichtig.
Er warf einen Blick auf das Gesicht des anderen, das, wie es ihm schien, finster und argwöhnisch auf ihn starrte. »Aber freilich, wenn erst Baldur kommt …«, meinte er versöhnlich.
Der alte Mann starrte ihn immer weiter schweigend an. Plötzlich sagte er, in einem jener lichten Momente, wie sie grade dauernd Betrunkene dann und wann haben, mit gar nicht mehr lallender Zunge: »Wer sind Sie eigentlich? Was wollen Sie von mir? Ich kenn Sie doch gar nicht!«
Die Ratte sah den plötzlich so klar Gewordenen vorsichtig an. In solchen Stadien wurden die Betrunkenen oft streit- und prügelsüchtig, und Klebs war bloß ein Männchen (und ein Feigling dazu), während man es dem alten Persicke selbst jetzt im schlimmsten Verfall ansah, dass er seinem Führer zwei stattliche SS-Männer und einen Schüler der Napola geschenkt hatte.
Klebs sagte einlenkend: »Hab’s Ihnen schon gesagt, Herr Persicke. Sie haben’s vielleicht nicht ganz erfasst. Mein Name ist Klebs, komme von der Partei, um ein paar Erkundigungen einzuziehen …«
Die Faust Persickes donnerte auf den Tisch. Die beiden Flaschen gerieten ins Schwanken – rasch rettete sie Klebs.
»Wie kommst du Hund dazu«, schrie Persicke, »zu sagen, ich hätte was nicht erfasst? Bist du klüger als ich, du Stinktier? Sagst mir in meinem eigenen Hause an meinem eigenen Tisch, ich kann nicht erfassen, was du sagst. Stinktier, elendiges!«
»Nein, nein, nein, Herr Persicke!«, säuselte die Ratte beruhigend. »Ich hab’s nicht so gemeint. Kleines Missverständnis. Alles in Friede und Freundschaft. Immer mit der Ruhe – alte Parteigenossen wie wir!«
»Wo hast du deinen Ausweis? Wieso kommst du in meine Bude und zeigst keinen Ausweis? Du weißt, das ist von Partei wegen verboten!«
Aber in diesem Punkt war Klebs nicht zu schrecken: die Gestapo hatte für vollgültige, ausgezeichnete, lückenlose Ausweise gesorgt.
»Da, Herr Persicke, sehen Sie sich alles in Ruhe an. Stimmt alles. Bin berechtigt, Erkundigungen einzuziehen, und Sie sollen mir helfen, wenn Sie können!«
Der alte Mann sah mit trüben Augen auf die Ausweise, die ihm vorgehalten wurden – Klebs hütete sich wohl, sie aus der Hand zu geben. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen, er tippte schwerfällig mit dem Finger darauf: »Sind Sie das?«
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