»Geh nicht zu weit mit, Kleine«, hatte Augustine mir gesagt.
Gern wäre ich nicht so weit mitgegangen, aber ich konnte nicht anders. Alle zehn Meter sagte ich mir: »Dahinten bei dem Wacholderbusch … vor dieser Schieferplatte … bei dieser Weide werde ich umkehren.« Und ich kehrte doch nicht um, im Gegenteil, je weiter ich lief, desto mehr liefen mir die Tränen über die Wangen. Florentin weinte nicht, aber er wagte nicht, mich anzuschauen.
»Sei tapfer, Marie«, sagte er mit ruhiger, Mut einflößender Stimme. Gern wäre ich tapfer gewesen, aber das überstieg meine Kräfte. In meiner Unschuld wusste ich, dass er für mich so unentbehrlich geworden war wie die frische Luft der Hügel, und dass ich ohne ihn verloren wäre. Schließlich sagte er:
»Wenn du mir ein wenig helfen willst, Marie, kehre um. Es kostet mich zu viel Kraft, dich weinen zu sehen.«
Ich hätte es gern gehabt, dass er mich auf die Stirn oder auf die Wange geküsst hätte, doch er wollte nicht. Oder er konnte es einfach nicht. Damals respektierten die Jungen die Mädchen sehr viel mehr als heute, und bevor man zum Standesamt ging, hatte man Zeit, sich darüber klar zu werden, ob man wirklich füreinander geschaffen war.
An diesem Morgen, als wir uns so Aug’ in Auge gegenüberstanden, spürten wir dies schon, und wir brachten es nicht übers Herz, uns zu trennen. Er wischte mir die Tränen aus den Augen und sagte:
»Verzehre dich nicht zu sehr, Marie, ich werde wiederkommen.«
Dann drehte er sich um und ging langsam auf dem Pfad dahin, der zu einer Gariotte mit einem Schieferdach hinaufführte. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn heute auf diesem sonnenüberfluteten Weg, und mein Herz zieht sich wie damals zusammen. Mehrere Male während seiner Abwesenheit bin ich dorthin zurückgekehrt, und der Ort hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben, wie es alle Orte tun, an denen sich die großen Ereignisse unseres Lebens zutragen.
An jenem Morgen kehrte ich langsamen Schrittes heim, unglücklich wie ein verlassenes Kind, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Zum Glück kamen Augustine und Alexis mir entgegen, und ich weiß nicht, ob ich sonst die Kraft gehabt hätte, allein zu unserem Hof hinauf zu gelangen. Sie haben in einer Weise mit mir geredet, wie man mit kranken Lämmern spricht, und mir durch ihre Liebe geholfen, diese schwere Situation durchzustehen. Von diesem Moment an habe ich mich in mich selbst zurückgezogen, wie eine Pflanze, die ohne Wasser auskommen muss. Nur Gottes Schöpfung hat mich gerettet; damit meine ich die Welt, mit der er uns beschenkt hat: die Blumen, die Bäume, die Tiere und die Erde. Zu dieser Zeit hatten die Menschen ihr noch nicht so zugesetzt wie heute. Vor allem dort oben auf den Hügeln, von wo aus man bei gutem Wetter die Berge der Auvergne erblicken konnte, in einem Umkreis von hundert Kilometern. Es geschah mir also, dass ich stundenlang in der Sonne lag, die Wange an einen warmen Stein gelehnt, wie eine Eidechse. Die Wärme, die der Kalkstein verströmt, ist sanft und lebendig und gleicht der Hand Gottes. Und diese Wärme, die mir der Stein gab, spürte ich wie einen Lebensquell in mir fließen, die mich stärkte. Stunde um Stunde betrachtete ich das Schöllkraut, die gesegneten Disteln, die Butterblumen, so lange, bis ich erfasste, was in ihnen vorging und sie so liebte wie die Menschen. Einfach weil ich Leben um mich herum brauchte, um selbst am Leben zu bleiben. Ich legte mich mitten in die Schafherde, beobachtete die in meinen Armen gefangenen Lämmer, ich atmete den Duft der Wolle ein, ich trank Milch direkt am Euter, ich ließ mich von ihrem Geruch so ganz berauschen … Oh! Wenn ich das so erzähle, mag es ein wenig verrückt klingen, aber haben Sie keine Angst, ich bin noch ganz bei Sinnen! Ich habe immer gewusst, dass die Pflanzen, die Tiere und selbst die Steine denselben Ursprung haben wie wir. Wir ähneln uns alle und wir sind alle Teil derselben Schöpfung. Auch glaube ich, dass der gute Gott ihnen sehr viel näher ist als uns, weil er das Zerbrechliche, Schutzlose begünstigt, das mehr der Liebe bedarf. Darum konnte ich nur inmitten von Gottes Schöpfung, da, wo sie am wärmsten ist, die Kraft finden, zu warten und zu hoffen.
Auch die Briefe haben mir geholfen, aber sie waren nicht sehr zahlreich – drei oder vier im Ganzen, bis zum 11. November 1918, drei Briefe waren von einem Soldaten geschrieben, dem das Schreiben leichter fiel als Florentin, aber ich nahm ihre Zeilen in mich auf wie Geschenke des Himmels. Später, sehr viel später, eines Morgens, läuteten die Glocken vom Kirchturm in Fontanes, und die anderen stimmten ein. Oh! Wie bin ich aus der Schlucht heraufgerannt, wo ich die Hoffnung doch schon fast aufgegeben hatte. Auf dem Dorfplatz lachten alle. Gewiss war es kein Fest, aber die Leute waren zutiefst erleichtert: Endlich Frieden! Endlich zitterte man nicht mehr, wenn man den Bürgermeister über den Dorfplatz gehen sah, endlich würden die Soldaten zurückkehren! Ich vergaß meine Schafherde in der Schlucht völlig und rannte hinauf zum Hof, um Augustine und Alexis die Neuigkeit zu verkünden. Auf dem Weg traf ich auf Augustine, die Alexis entgegenging, der im Dorf Einkäufe erledigte.
»Es ist vorbei! Es ist vorbei!«, sagte ich und umarmte sie.
Wie haben wir beide geweint an diesem kalten Novembertag, auf dem Weg zum Hof. Aber es war nicht nur aus Freude und Glück. Während wir auf Alexis warteten, bereiteten wir ein echtes Festmahl vor, indem wir das Pökelfleisch aus dem Vorratsfass holten. Ich werde nie seinen wunderbaren Geschmack an jenem Tag vergessen, nie den des Kaffees, den Alexis mitbrachte. Der Krieg war zu Ende; Florentin würde heimkommen; unser Leben würde wieder hell werden. Ich war so glücklich, dass ich die Schafe darüber vergessen hatte. Ich lief in die Schlucht, wo ich hoffte, sie in der Nähe der Weide von La Pierre-Levade zu finden, da ich sie in diese Richtung getrieben hatte. Sie waren dort, aber nicht alle. Glücklicherweise kannte ich meine Tiere so gut, dass ich innerhalb einer Stunde meine Herde wieder beisammen hatte. Es war übrigens eines der letzten Male, dass sie draußen weideten. Sie würden danach bis zum Frühling im Schafstall bleiben, es sei denn, die Sonne würde nach Sankt Martin noch am frühen Nachmittag scheinen.
Da ich keine Briefe von Florentin erhielt, hatte ich Angst, dass er noch in den letzten Tagen des Krieges verletzt worden sei. Ich musste noch fast einen Monat warten, bevor ich ihn wiedersah. Er kam am 9. Dezember bei Einbruch der Dunkelheit in Eiseskälte zurück. Der Hund hatte nicht gebellt. Sobald es an der Tür klopfte, wusste ich, dass er es war. Er hat uns alle umarmt, und für mich war es das erste Mal, dass er das tat. Dann setzte er sich an den Tisch und verschlang alles, was wir ihm vorsetzten. Es bereitete uns einerseits Freude, ihn so essen zu sehen, andererseits machte es uns aber auch Angst. Als er den Kopf hob, wurde mir bewusst, wie sehr er sich verändert hatte. Das Licht in seinen Augen war erloschen, und es war fast, als nähme er uns gar nicht wahr. Auf unsere Fragen antwortete er nur:
»Ché chauvio, paouré moundo!« – »Wenn ihr nur wüsstet, arme Welt!«
Und so blieb es lange Zeit, wie an diesem Abend, so auch an den folgenden. Er konnte nichts als diese Worte sagen und schien seinen schrecklichen Gedanken weiter nachzuhängen. Wir haben verstanden, dass man ihm Zeit lassen musste, sich wieder einzugewöhnen, und wenn wir auch unglücklich waren, haben wir uns doch dazu gezwungen, es ihm nicht zu zeigen.
Im darauf folgenden Frühling kam er eines Morgens bei der ersten Aprilsonne zu mir auf die Hochebene. Es war an einem solchen Tag, als das Leben wieder seine Rechte geltend machte und die Natur aus einem langen Schlaf erwachte, dass er die Worte finden konnte, mir von seinen Erlebnissen zu erzählen und so Heilung erfuhr. Er erzählte mir von den Schützengräben, in denen die Männer dahinvegetierten, während sie darauf warteten zu kämpfen, die Stimmen Einzelner, die sich alle fünfzig Meter erhoben und nach Frieden riefen. Er berichtete vom Hunger und dem Durst der Soldaten, die wieder wie Kinder wurden, von den Kämpfen im Wald von Villers-Cotterêts unter dem Geschützfeuer der deutschen Offensive. Er gestand mir, wie er während eines Angriffs im Nahkampf auf dem »Chemin des Dames« mit leeren Händen floh und sich nach dem Durchbruch seines Bataillons mitten in den deutschen Linien befand, ohne Waffen, aber am Leben. Als Gefangener wurde er von der feindlichen Armee beim Rückzug zurückgelassen. An jenem Morgen hatte er geweint und wollte sterben, obwohl er wusste, dass ich auf ihn wartete, auf dem Hof, der uns so lieb und teuer war, unter der Sonne der Causse. Ich erklärte ihm, dass er ganz sicher der Mann sei, auf den ich gewartet hatte: ein Mann, unfähig zu töten, der an das Heilige im Leben glaubte und deshalb am Leben geblieben war, Tag für Tag beschützt vom lieben Gott.
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