*Das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich wurde von dem kirchenfeindlichen Parlament der III. Republik am 3. Juli 1904 gegen den Widerstand von Papst Pius X. verabschiedet. In etwa zwanzig Departements kam es bei der Einführung zu Ausschreitungen.
*Mariä Empfängnis wird am 8. Dezember gefeiert.
Wie könnte ich jemals diesen Sommertag des Jahres 1914 vergessen, als die Sturmglocken von allen Kirchtürmen der Umgebung läuteten? Ich war mit Marguerite in der Buchsbaumschlucht und wir saßen am Fuße eines Wacholderbuschs. Wir versuchten gerade, aus dem Fell ihres Hundes Kletten zu entfernen. Sehen Sie, wie genau ich mich erinnere! Zuerst läuteten die Glocken von Fontanes, dann die von Caniac-du-Causse, von Labastide-Murat, von Montfaucon, von überallher. Welche Angst überfiel uns! Anfangs dachten wir an ein Feuer und wir rannten auf den Bergrücken, um nach dem Rauch zu suchen, aber der Himmel war nur blau, blau so weit das Auge reichte, es war ein friedliches und lichtvolles Blau, wie es nur der Himmel über den Kalkbergen haben kann. Von dort oben erschien uns das Läuten noch schrecklicher als in der Schlucht. Da wir näher am Dorf als am Gehöft waren, ließ ich die Herde in Marguerites Obhut und rannte nach Fontanes, mit rasendem Herzen und dem furchterregenden Läuten in den Ohren. Bevor ich dort ankam, begegnete ich einem alten Mann, der auf einer Mauer aus Schieferplatten saß. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt, so wie Augustine und Alexis es immer taten, abends, wenn sie sehr müde waren. Ich fragte ihn:
»Sagen Sie mir, Monsieur, wo ist das Feuer?«
Er hob langsam den Kopf und ich sah, dass er weinte. Es war mir sehr eigenartig dabei zumute, einen Mann weinen zu sehen; ich dachte, dass nur Kinder das täten. Ich glaube, es war der Tischler von Fontanes, ein Alter, der in einem Häuschen auf dem Dorfplatz wohnte. Nie habe ich seine hellen Augen vergessen, die einem überströmenden Fluss glichen.
»Es brennt nicht, Kleine«, sagte er mir, »es ist Krieg.«
Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, verstand aber wohl, dass es etwas Furchtbares war. Einen Augenblick hielt ich inne, ohne zu wissen, was ich tun sollte, doch dann rannte ich los zum Dorfplatz, auf dem ich schon von Weitem eine Menschenmenge erblickte. Dort standen Frauen, die jammerten und sich mit den Schürzen die Augen trockneten, Alte, die leise miteinander diskutierten, und Kinder, die wie ich von einem Grüppchen zum anderen liefen, ohne etwas zu begreifen. Die Männer, die auf den Feldern arbeiteten, kamen nach und nach außer Atem herbei gerannt und blieben wie erschlagen von der Neuigkeit mit schlenkernden Armen stehen. Es gab natürlich einige, die gestikulierten und sich aufspielten, aber es waren eher wenige und man bemerkte gleich, dass sie sich ein wenig dazu zwangen.
Der Preis, den ich und die Meinen später durch den Krieg von 1940 zahlten, berechtigt mich zu sagen, dass es nichts Absurderes auf der Welt gibt als Männer, die sich entschließen, gegen andere zu kämpfen, aus Gründen, die sie selbst nicht einmal kennen. Und wenn ich es auch damals nicht beurteilen konnte, erinnere ich mich doch daran, dass ich den Pfarrer, der herankam, fragte:
»Warum?«
Er war nicht in der Lage, mir zu antworten, ebenso wie Alexis und Augustine abends, und sagte nur:
»Es ist ein großes Unglück, Marie, wir werden sehr viel beten müssen.«
Dann lief ich zurück in die Schlucht, wo Marguerite schon voller Sorge auf mich wartete. Als ich ihr sagte, dass Krieg sei, fragte sie, gegen wen, und mir wurde klar, dass ich nicht einmal das wusste. Ich hatte nicht daran gedacht, im Dorf danach zu fragen. Wir sprachen ein wenig miteinander, doch dann kehrten wir früher heim als sonst, weil wir unbedingt erfahren wollten, wie unsere Familien auf dieses Ereignis reagierten. Während des gesamten Rückwegs in der friedlichen und warmen Sommerluft fragte ich mich, was sich wohl in unserem Leben verändern würde, aber nicht einen Moment lang dachte ich an eine mögliche Einberufung Florentins. Für mich war er noch ein Kind, oder jedenfalls fast, obwohl er bald ein Mann sein würde. Abends am Tisch war ich überhaupt nicht beunruhigt, vor allem da Alexis uns versicherte, dass der Krieg keine drei Monate dauern werde. Wir Armen! Niemals hätte ich vermutet, dass die kommenden vier Jahre sich so tief in meine Erinnerung eingraben würden.
Es war noch nicht einmal ein Monat vorbei, da fing der Bürgermeister schon an, mit der Trikolore über der Brust seine unheilvollen Besuche im Dorf zu machen. Im Dezember befand ich mich gerade auf dem Dorfplatz, als er zu Jeanne H. ging, einer armen Frau, die schon ihren Mann zwei Jahre zuvor verloren hatte. Ihr Sohn Marcel war im September eingezogen worden. Nie habe ich ihren Schrei vergessen, den verzweifelten Schrei einer Frau, der es die Seele zerreißt, wie ihn nur Frauen ausstoßen, die ihre Kinder verlieren. Und genau dieser Schrei hat mich jede Nacht geweckt, in der Woche, die diesem traurigen Tag folgte. Auf den Straßen und auf dem Dorfplatz waren nur noch Frauen, Kinder und alte Menschen. Man hörte weder das Klingen des Ambosses beim Schmied noch die Rufe des Hufschmieds. Armes Dorf! Man hatte den Eindruck, dass es seine Seele verloren hätte und wie auf Zehenspitzen dahinlebte, geräuschlos, in der Furcht, seine Toten zu wecken. Ich ging nicht mehr hin, nur wenn Augustine es von mir verlangte, aber dann hatte ich solche Angst, dass ich so schnell wie möglich machte, dass ich wieder wegkam.
Die seltenen Neuigkeiten, die wir von den zwei Alten zu hören bekamen, die die Zeitung abonniert hatten, waren nicht gut. Der Krieg dauerte an, blieb in den Gräben stecken, aus denen die Männer zurückkamen, nicht wiederzuerkennen, verstörte Überlebende, die wegen der seltenen Heimaturlaube fast verrückt wurden. Alexis wusste nichts mehr zu sagen. Er verstand nichts mehr von dem, was dort oben im Norden vor sich ging, so weit weg von unserem Quercy. Ich arme Kleine fragte jeden Abend vor dem Schlafengehen:
»Er geht nicht fort, unser Florentin?«
»Aber nein«, antwortete Augustine, »das alles wird längst vorbei sein, bis er alt genug ist.«
1915, 1916 … Zwei Jahre vergeblicher Hoffnung, aber mit katastrophalen Neuigkeiten. Die Monate vergingen, und gleichzeitig kroch in mir die Angst hoch, und ich schlief nachts nicht mehr. Das Leben hatte all seinen Reiz verloren, und der Himmel, der doch jeden Sommer blau war, schien mir mit Gewittern geladen. Es gab keine Feste mehr, keine fröhlichen Zusammenkünfte und Abende, die Leute schienen auf den Tod zu warten. 1917, ein schreckliches Jahr, das Jahr der Schlacht am »Chemin des Dames« *und des Aufruhrs. Kaum war es vorbei, erhielt Florentin seinen Einberufungsbescheid. Am Abend vor seinem Weggang bin ich lange mit ihm im Schafstall zusammen gewesen. Wir saßen nebeneinander auf dem Stroh, und wir trauten uns nicht, uns bei den Händen zu fassen. Ich war 16 Jahre alt und hatte das Gefühl, als risse man mir einen Teil meines Herzens heraus. Ob er es in diesem Moment begriff? Zweifellos, denn er sagte mir in der für ihn so charakteristischen schlichten Art:
»Wenn ich zurückkomme, Marie, und wenn du es willst, nehme ich dich zur Frau.«
Es war nicht Sitte, dass ein Mädchen in meinem jugendlichen Alter darauf antwortete. Ich hätte die Augen niederschlagen müssen und ihm sagen, dass eine solche Entscheidung bei Alexis und Augustine läge, doch ich konnte es nicht. Ich habe ihm einfach geantwortet:
»Florentin, ich werde jeden Tag auf dich warten.«
Diese Zusicherung genügte uns. Alles andere, Schönere, Bedeutendere lag in seinen und meinen Augen. Am nächsten Morgen standen wir beide sehr früh auf. Ich wollte ihn ein Stück auf seinem Weg begleiten. Als wir losgingen, brach der Tag an. Es war ein schöner Herbstmorgen und die Eichenblätter fingen gerade an, sich kupferrot zu färben. Über den Hügelketten schimmerte der Himmel rosa wie ein großer See, auf den Tau gefallen war.
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