Endlich durfte ich auf den Schulhof gehen und konnte mich mit meinen zwei Kameraden in eine Ecke zurückziehen. Eine Stunde später kam Madame Vieillevigne mit einem Lächeln auf den Lippen dazu: Wir hatten alle drei bestanden. Was für eine Freude und Erleichterung! Auf dem Rückweg waren wir so froh, dass wir bis Fontanes ununterbrochen ein Lied nach dem anderen sangen, und unsere wunderbare Lehrerin stimmte mit ein.
So habe ich das einzige Diplom erhalten, das ich besitze und das Alexis und Augustine mit großer Freude erfüllte. Madame Vieillevigne hat mich selbst auf den Hof zurück begleitet, und sie blieb zum Abendessen bei uns. Ich erinnere mich noch an die vor Stolz leuchtenden Augen von Alexis und Augustine, die mir noch am selben Abend vor dem Zubettgehen einen Louis d’or schenkten, den ich bis heute aufbewahrt habe. Er ist übrigens alles, was mir von den beiden Alten geblieben ist, die mich so sehr liebten, dass sie mir die Schulbildung ermöglichten, obwohl sie meine Arbeitskraft so sehr gebraucht hätten. Sie haben mich gelehrt, Glück zu empfinden, indem man anderen gibt, ohne zu erwarten, dass man im Gegenzug etwas erhält.
Dieser unvergessliche Sommer ging vorbei, wie auch die folgenden Tage und Monate. Je größer ich wurde, umso älter wurden Augustine und Alexis. Ihnen fehlte mehr und mehr die Kraft für die schwersten Tätigkeiten wie die Weinernte, die Schafschur oder die Buchweizenernte. Sie entschlossen sich also, einen jungen Knecht als Hilfe einzustellen. Das muss 1912 oder 1913 gewesen sein, ich erinnere mich nicht mehr genau, aber was ich noch weiß, ist die Tatsache, dass er im Frühling zu uns kam, an einem Abend, von seinem Vater begleitet, der in Couzou lebte, einem Dorf zwischen Calès und Rocamadour. Als er vom Karren stieg, fielen mir sofort seine dichten Haare auf, seine großen schwarzen Augen und seine scheue und furchtsame Art, mit der er die Menschen anschaute. Es war Sitte, dass die armen Familien ihre Kinder auf den Gehöften und in den Bauernhäusern unterbrachten, wo sie auf jeden Fall genug zu essen bekamen. Als ich ihn kennenlernte, hatte ich keine Ahnung, dass er von seinem Vater geschlagen wurde. Er hat es mir erst sehr viel später anvertraut, als er schon mein Mann war und der Vater meiner drei Kinder. Er hieß Florentin. Ich war erst zwölf oder dreizehn Jahre alt, aber ich kann doch sagen, dass ich ihn, ohne es selbst zu wissen, schon damals liebte, in dem Moment, als ich ihn zum ersten Mal sah. Obwohl er mich an diesem ersten Tag kaum anschaute, nicht einmal beim Abendessen, bei dem Alexis und Augustine ihm freundlich erklärten, was er zu tun habe, wo er schlafen solle und wer ich sei, die Kleine, die froh war, ein wenig Jugend um sich zu haben.
Am nächsten Morgen erzählte ich Elodie und Marguerite voller Stolz, was sich am Vorabend bei uns auf dem Mas del Pech ereignet hatte. Ich merkte sehr wohl, dass sie ein wenig neidisch waren, denn es geschah nicht besonders viel bei uns auf dem Hochland. Ich denke auch, dass ich ein bisschen übertrieb, als ich Florentin als einen sehr guten Freund bezeichnete. In Wahrheit war unser Kontakt am Anfang eher etwas schwierig. Man hatte den Eindruck, dass er gegenüber jedem misstrauisch war, selbst mir gegenüber, die ich ihm nun wirklich gar nichts Übles wollte.
Es waren die Schafe, die uns näher zusammenbrachten: Da er mit ihnen zusammen im Schafstall schlief, erfuhr ich von ihm am nächsten Morgen immer das Neueste über sie. Wenn ein Schaf zum Beispiel hinkte oder im Verlauf des Tages niederkommen würde. Er erzählte es mir in einem so gewichtigen Ton, dass mir bewusst wurde, wie sehr er die Tiere liebte. Ich hatte schon gelernt, dass die Menschen, die wirklich einen Bezug zu Tieren hatten und sie verstanden, im Allgemeinen vertrauenswürdige Leute waren. Auch ich habe mich Florentin auf natürliche Art und Weise zugewandt, ohne Misstrauen. Er zeigte mir, wie man Wunden behandelt, z. B. einen Spinnenbiss, den man mit Hilfe eines Messers ein wenig ausbluten ließ und dann durch ein Pflaster aus Knoblauch oder Schafgarbe schützte. Er erklärte mir, dass man den Schafen im Juli und August genügend Salz geben müsse. Im Falle eines Gewitters war es wichtig, Schutz in einer Schlucht zu suchen und einen Platz zu finden, den der Hirtenhund akzeptierte und wo er in meiner Nähe blieb, da Tiere viel besser als Menschen instinktiv spüren, wo der Blitz einschlagen wird. Er zeigte mir die kranken Tiere oder die trächtigen, bei denen die Wolle herunterhing oder das Rückgrat zu flach war – daran konnte man erkennen, dass die Frucht nicht in Ordnung war – sowie die, denen Zähne fehlten und deshalb auf dem nächsten Markt verkauft werden müssten. Er berichtete mir aus seinem Leben in Couzou als kleiner Hirte, aber er trauerte dem in keiner Weise nach. Nachdem die Lämmer geboren worden waren, stand er nachts auf, um nach ihnen zu schauen; am nächsten Morgen zeigte er mir die schwächlichen Tiere und versicherte mir, dass der nächste Winter hart sein würde, wenn viele männliche Tiere zur Welt kämen, da die Vorsehung der Natur bei anhaltendem Schnee immer die robusten Tiere durchkommen ließ. Ob es wahr ist? Ich habe es im weiteren Verlauf nicht überprüft, ich glaube einfach, dass die Natur ihre Kinder beschützt, auf sehr viel weisere Art, als wir es zu erklären vermögen.
Alexis und Augustine hatten die besondere Beziehung, die uns miteinander verband, bemerkt. Wie hätte es auch anders sein können? Sie waren aber deswegen nicht beunruhigt, da sie Florentin schätzten und ihm vertrauten. Was sie viel mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass ich seit meinem Schulabschluss und meiner Firmung nie wieder im Dorf gewesen war, nicht einmal am Sonntag. Der Pfarrer wunderte sich, mich weder zur Messe noch bei den Vespern zu sehen, und machte ihnen Vorwürfe.
»Sag mal, Kleine«, sagte Augustine zu mir, »wie wäre es, wenn du den Pfarrer mal besuchen würdest?«
Ich ging hin und versprach, alles zu tun, was sie von mir erwartete, aber auf dem Heimweg rannte ich so schnell ich konnte. Zusammen mit Florentin half ich Alexis, der zu der Zeit sehr schnell müde wurde. Er hatte es mit dem Herzen, sprach aber nicht darüber. Man glaubt oft, dass die Menschen damals nicht so alt wurden wie heute, aber das stimmte nicht immer, vor allem galt es nicht für diejenigen, die gesund lebten, viel an der frischen Luft waren und weniger aßen, als man es heute tut.
Augustine war wachsamer und ging mehrere Male in der Woche ins Dorf. Ich denke, dass sie mit dem Pfarrer über meine Beziehung zu Florentin gesprochen hat, da er mir eines Nachmittags nach der Beichte einige Fragen stellte. Wenn ich mich auch nicht mehr an den Namen des guten Pfarrers erinnere, so doch umso besser an sein rundliches Gesicht und die kleine Brille, hinter der Augen voller Güte leuchteten. Bei uns auf dem Land wachten die Pfarrer sehr gewissenhaft über die Einhaltung der Moral. So auch unser Pfarrer, doch war er in erster Linie ein guter und großzügiger Mensch. Noch heute bin ich ihm dankbar dafür, dass er nichts Schlechtes sah, wo nichts war, und dass er mein Vertrauen und meine kindliche Unbefangenheit nicht verletzt hat. Auf diese Weise konnte ich sie mir, wenigstens teilweise, bewahren, mein ganzes Leben lang. Was ist unser Leben ohne Vertrauen und Liebe? Nichts, oder nicht viel; heute kann ich es viel besser ermessen als damals, zu der Zeit, als ich voller Glück die Liebe entdeckte und niemand aus meiner Umgebung sie in irgendeiner Weise zu trüben versuchte.
So vergingen diese Jahre, an die ich die schönsten, mit großer Sehnsucht verbundenen Erinnerungen habe. Oh, ich weiß wohl, dass ich großes Glück hatte und dass das Leben der Kinder, die in Höfen oder Bauernhäusern untergebracht wurden, meinem kaum glich, aber so bin ich eben: Ich blicke nur auf das Gute in meinem Leben zurück, den anderen Teil habe ich vergessen. Oder ich habe es zumindest versucht. Und Sie werden noch sehen, dass mich Sorgen und Leid keineswegs verschont haben. Ich hatte nie eine Tendenz zum Unglück, und als es an meine Tür klopfte, tat ich alles, um es zu verscheuchen. Deshalb war mein Leben schön. Auch im Alter habe ich das Lächeln nicht verloren, trotz der körperlichen Schwächen, damit meine Enkel mich nicht vergessen, wenn ich diese Erde verlassen habe, die ich heute noch auf dieselbe Art und mit derselben Kraft liebe wie damals, als ich jung war.
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