Emma schnaubte. »Ich fühle mich auf einmal wie Dorothy im Zauberer von Oz , als sie von dem Tornado eingesaugt und fortgetragen wird.«
Ben lachte. »Immerhin haben wir ein paar Tage Zeit, und ich glaube, Mom wird noch einen zweiten Kuchen brauchen, wenn ich ihr das sage.«
Emma erwiderte sein Grinsen. »Klar, aber sie wird sich schnell beruhigen, wenn sie hört, dass ich auf dich aufpasse.«
Flughafen Heathrow, London, Großbritannien
Als er aus dem Flughafengebäude ins Freie trat, atmete Ben die Abgase von Autos und Flugzeugen ein, spürte den feuchten Sprühnebel auf der Haut und schaute auf in den mit bleiernen Wolken verhangenen Himmel.
»Es gibt da oben aber schon eine Sonne, oder?«
»Kein Wunder, dass hier alle so blass sind.« Steve drückte die Hände in seinen unteren Rücken, um sich zu strecken, was ein knackendes Geräusch hervorrief.
Andrea verzog das Gesicht. »Autsch«, kommentierte sie.
»Ja, absolut! Vierzehn Stunden in einem Flugzeug eingesperrt zu sein grenzt an Körperverletzung«, sagte er und wandte sich an Dan. »Und wir mussten uns in die Business-Class quetschen! Warum keine Erste Klasse, du Geizhals?«
»Ist das dein Ernst?« Dans Augenbrauen hoben sich. »Bist du überhaupt schon mal Erste Klasse geflogen?«
»Hm, lass mich kurz überlegen.« Steve fasste sich für einen Moment ans Kinn. »Öhm, nein.«
»Ist total überbewertet. Und abgesehen davon, Chambers, habe ich noch nie jemanden gesehen, der so viele Törtchen gegessen und die Stewardess so angehimmelt hat.«
»Ich achte eben drauf, dass ich auf meine Kosten komme – äh, ich meine natürlich, auf deine Kosten. Danke, Onkel Daniel!« Steve salutierte vor seinem Freund.
»Mir ist kalt.« Andrea zog ihre Jacke fester zu.
Ben sah, dass sie bei der Wahl ihrer Kleidung eher auf Optik als auf Nutzen geachtet hatte. Dan hatte sie zwar gewarnt, dass es kühler sein würde, doch ihre Antwort darauf war lediglich ein Seidenschal.
Dan begann in seinem Rucksack zu wühlen. »Ich habe vielleicht einen zweiten Pullover, dann kannst du …«
»Hier ist einer!« Emma zog ein Oberteil aus ihrer Tasche und warf es Andrea zu. Sie stellte ihren Koffer ab und stöhnte. »Hey, Steve, deine Freundin wollte uns doch hier abholen, und zwar jetzt, oder?«
»Genau, Jennifer Brock heißt sie übrigens, sie arbeitet beim Londoner Zoo.« Steve spähte die Straße hinunter.
»Im Zoo?«, grinste Ben. »Dann ist es ja kein Wunder, dass sie auf dich steht.«
Steve starrte ihn kurz an. »Sie sagt, ich sei wirklich ein feines Exemplar.« Dann streckte er einen Finger aus. »Da ist sie!«
Ben drehte sich um – eine schlanke, athletisch gebaute Frau mit einer dunklen Bob-Frisur winkte zurück. Sie trug ein khakifarbenes Hemd mit einem gestickten Logo auf einer der Brusttaschen. Sie marschierte ohne Umschweife auf Steve zu, drückte ihn fest an sich und küsste ihn auf die Wange. Dann schob sie ihn ein Stück weg, um in sein strahlendes Gesicht zu schauen.
»So weit bist du geflogen, nur um mich zu sehen?«
»Natürlich, Jen.« Steve wandte sich den anderen zu. »Meine Freunde.« Dann stellte er alle vor: »Ben, Emma, Andrea und Dan, unsere mobile Reisekasse.«
»Danke, Steve.« Dan streckte ihr die Hand entgegen. »Schön, dich kennenzulernen, Jennifer.«
»Gleichfalls.« Sie nahm seine Hand entgegen. »Und dich, und dich …« Sie schüttelte jedem die Hand. »Bitte, nennt mich Jenny, und lasst uns gehen – wir können die Vorstellungsrunde ja noch in meinem Auto fortsetzen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um. »Lasst uns das Parkticket bezahlen, bevor ich pleite bin!«
***
Jenny hatte sie alle in einen Ford Transit gestopft, der das Logo des Londoner Zoos auf der Tür hatte, das auch auf ihrer Brust prangte. Der Wagen hatte sechs Sitze, drei vorn und drei hinten, und reichlich Platz für die Taschen.
Ben roch sofort Heu sowie einen Hauch von feuchtem Fell und schloss daraus, dass Menschen nicht die einzigen Passagiere waren, die dieses Gefährt transportierte.
Steve setzte sich direkt neben seine Zoologin, während Emma den Platz an der Beifahrertür einnahm. Hinten rutschte Ben ans Fenster, woraufhin Andrea schnell an seine Seite sprang und Dan den letzten freien Platz nahm.
Als sie in rasender Geschwindigkeit das Flughafengelände verließen, schaute Ben mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Angst hinaus. Die Rush Hour in New York war nichts gegen einige der Manöver, die sie hier absolvierten.
Der Hauptunterschied war allerdings, dass amerikanische Fahrer immer die Hand auf der Hupe hatten oder sich sogar aus den Fenstern lehnten, um deutlich ihre Meinung zu sagen, während die Engländer maximal böse guckten oder wütend in ihren Gefährten vor sich hin schmollten.
Jenny drehte den Kopf in ihre Richtung. »Ich habe morgen ein Treffen in Windlesham Manor für euch arrangiert. Als Hintergrundgeschichte habe ich ihnen erzählt, dass ihr vorhabt, eure liebe alte Mutter dort einzuquartieren. Ich kann euch hinfahren, aber es sollten nur zwei von euch gehen – ist natürlich eure Entscheidung, wer.«
Jennys Blick wanderte zurück auf die Straße. »Oh, und zieht euch etwas Vernünftiges an. Der Laden ist teuer.«
Steve grinste. »Damit bin ich raus.«
Emma drehte sich um. »Also, Ben muss auf jeden Fall gehen. Nur er weiß, worauf es ankommt.« Sie lächelte ihn an. »Und ich kann ihn begleiten, ich habe mir nämlich gerade ein paar neue Klamotten gekauft. Wir können so tun, als wären wir ein Paar.«
»Oder Bruder und Schwester«, fügte Andrea mit einem Grinsen hinzu.
»Und was machen wir?«, fragte Dan.
»Die britische Gastfreundschaft genießen«, gab Jenny zurück. »Ich habe euch alle im Fairstowe House einquartiert, das ist ein Bed and Breakfast in Crowborough, also ganz in der Nähe des Anwesens. Es ist schön da, am Ende der Straße ist ein typischer Pub und die ganze Gegend ist sehr geschichtsträchtig. Während Ben und Emma unterwegs sind, könnt ihr euch also die Gegend anschauen, wandern gehen oder einfach den Jetlag wegschlafen.«
»Klingt doch toll.« Steve seufzte und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
»Super, und vielen Dank, Jenny«, sagte Ben. »Wie weit genau ist es zum Windlesham Manor?«
»Vom Fairstowe House aus sind es nur ein paar Meilen. Von hier aus allerdings 50 Meilen. Also lehnt euch zurück, genießt die Aussicht und macht es euch bequem. Wir werden bestimmt drei Stunden brauchen, das meiste davon, um aus dieser verdammten Stadt herauszukommen!«
»Alles klar«, sagte Ben und entspannte sich. »Dann werde ich jetzt mal an meinem Jetlag arbeiten.« Er schloss die Augen.
***
Das Quietschen von Bremsen und ein spitzer Ellbogen in seinen Rippen sagten ihm, dass sie angekommen waren. Ben öffnete seine Augen in einer Umgebung, die ihn an eine Mischung aus Harry Potters Hogwarts und das Cover einer der Gartenzeitschriften seiner Mutter erinnerte.
»Wow«, sagte Steve auf dem Vordersitz.
Fairstowe House musste an die 200 Jahre alt sein, wenn das reichte. Die Fassade aus Sandstein und dunklen Backsteinen war mit Efeu und Rosen bewachsen und kleine, mit Blei eingefasste Fenster ließen einen Blick auf die golden leuchtenden Lampen im Inneren zu.
»Sieht einladend aus«, stellte Ben fest, als er die Tür des Vans zuzog. Die Freunde standen jetzt im Hof und rochen Rosen, Lavendel und einen Hauch von Feuerholz.
»Ja, daran könnte ich mich gewöhnen.« Emma schaute sich in einer langsamen Drehung um, die Hände in die Hüften gestützt.
Die Eingangstür öffnete sich und eine Frau trat heraus, die sich mit einem Serviertuch die Hände rieb und es sich dann über die Schulter legte. Sie lächelte, was ihre Wangen regelrecht aufleuchten ließ.
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