Am nächsten Morgen um Punkt acht Uhr trafen Ben und Emma Jenny im Erdgeschoss. Ben fühlte sich immer noch, als würde er gleich platzen – Margaret hatte ihnen getoastete Muffins und daumendicke Würstchen gemacht, dazu Eier und Speck und natürlich heißen Tee. Ben hatte fast alles aufgegessen, bis auf den Schinkenspeck – der war ihm zu labberig gewesen. Später hatte er herausgefunden, dass das die typische Art war, wie er hier zubereitet wurde – igitt!
Jenny führte sie zurück ins Wohnzimmer, wo sie schon bald Gesellschaft von Steve, Dan und Andrea bekamen. Sie machten es sich in den riesigen Sesseln gemütlich.
»Wie sieht der Plan aus, Jen?«, fragte Steve seine Freundin.
Jenny hatte gerade eine Teetasse an den Mund geführt und schien sie in einem Zug auszutrinken. Ben war fasziniert davon, wie viel Tee hier getrunken wurde, dagegen sahen amerikanische Kaffeetrinker wirklich alt aus.
Jenny stellte die Tasse wieder auf die dazugehörige, edle Porzellanuntertasse und leckte sich die Lippen. »Das Treffen findet erst in einer Stunde statt, und einer der Gründe, warum ich Fairstowe ausgesucht habe, ist, dass es nur zehn Minuten von dem Anwesen entfernt ist. Die Geschichte zu unserer Tarnung lautet, dass Emma und Ben überlegen, wegen ihrer Arbeit hier in die Gegend zu ziehen und ihre gebrechliche Mutter mitzunehmen. Dabei schwebt euch eine Betreuung der höchsten Güteklasse vor.« Sie schaute Ben ernst an. »Sie ist 86, hat keine ernsten Gesundheitsprobleme, ist aber geistig schon ein bisschen benebelt, okay?«
Ben nickte. »Verstanden.«
»Du wirst das Gespräch leiten. Lass dich nicht auf Details ein. Du stellst die Fragen und verlangst eine Führung. Noch besser wäre es natürlich, wenn ihr euch allein ein wenig umsehen könntet.« Sie lehnte sich zurück und seufzte. »Die Frage ist nur, wonach sucht ihr eigentlich?«
Ben atmete langsam durch die Nase aus. Das war die Frage, über die er sich schon seit Tagen den Kopf zerbrach, aber für die er keine Antwort fand.
»Wir wissen nur, dass der Autor, Sir Arthur Conan Doyle, das Notizbuch meines Großvaters irgendwo in Windlesham Manor versteckt hat. Irgendwo auf dem Anwesen.« Er lächelte sie verlegen an. »Aber er hat nicht gesagt, wo genau.«
»Meine Güte!« Jennys Augenbrauen schnellten nach oben. »Weißt du überhaupt, wie groß das ist?«
»Ja, ja.« Ben schaute für einen Moment an die Decke. »Ich weiß, riesig. Das könnte glatt eine unmögliche Aufgabe sein.«
Emma atmete tief durch. »Wir wissen nur, dass es unter der Erde sein soll, an einem Ort, von dem nur Doyle und Bens Vorfahre wussten.«
»Hm, das ist ja typisch Doyle – er liebte Geheimnisse und Intrigen.« Jennys Augen wurden schmaler. »Aber das heißt nicht unbedingt, dass dein Urahn schon einmal hier war. Damit hätten wir arbeiten können, aber so wie es jetzt aussieht, sind alle Verbindungen zwischen Doyle und dem Anwesen gekappt. Somit können wir nicht erwarten, dass sie euch einfach grünes Licht für die Suche geben.« Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Eure Erfolgsaussichten gefallen mir gar nicht.«
»Mir auch nicht«, sagte Ben. »Ich hoffe nur, dass uns irgendwas ins Auge springt.« Er seufzte.
»Könnte es nicht auch sein, dass es schon gefunden wurde?«, fragte Jenny.
»Vielleicht, aber ich halte das für unwahrscheinlich«, sagte Dan. »Im Internet findet sich kein Wort darüber und ein Notizbuch mit diesem Inhalt wäre sicher auf Interesse gestoßen.«
»Außer, wenn es auf dem Schwarzmarkt verhökert wurde und direkt in eine Privatsammlung gegangen ist«, fügte Ben hinzu.
»Ich glaube es trotzdem nicht«, sagte Dan. »Es gibt nicht ein einziges Indiz, dass das Notizbuch überhaupt existiert, mal abgesehen von der Korrespondenz zwischen Benjamin dem Ersten und Doyle. Ich glaube, wo immer er es versteckt hat, finden wir es auch heute noch.«
Jenny sah auf die Uhr. »Nun ja, immerhin haben wir den Termin, also drücken wir einfach die Daumen. Und wenn alles schiefgeht, habt ihr immerhin einen schönen Urlaub.«
Zwanzig Minuten später führte Jenny Ben und Emma zurück in den Van. Dan, Andrea und Steve waren zur Tür gekommen, um ihnen zum Abschied zu winken, und Steve streckte den Daumen nach oben, als sie abfuhren.
Ben winkte zurück und fing dann an zu kichern.
»Was ist denn los?«, wollte Emma wissen.
»Nun ja.« Ben grinste immer noch. »Den einen Moment bin ich bei einer Beerdigung, dann tauchst du auf und wenig später bin ich am anderen Ende der Welt und versuche, mir Zugang zu einem Altenheim zu beschaffen.«
Sie lächelte. »Ja, und ich bin in der einen Minute noch dabei, mir einen Lebensunterhalt als Führerin für Abenteuertouren aufzubauen, und dann tauchst du auf und ich werde auf einmal von einem Wirbelsturm namens Cartwright hinfortgerissen. Siehst du, das funktioniert auch anders herum.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Aber auf jeden Fall kann man sagen, dass wir es nicht langweilig haben, oder?«
Er senkte den Blick. »Dir ist aber schon klar, dass ich in Erwägung gezogen habe, wieder nach Hause zu ziehen, damit ich es langweilig habe?«
»Tja, trotzdem bist du jetzt hier«, entgegnete Emma.
»Da vorn seht ihr auch schon Windlesham Manor«, sagte Jenny.
Der Van bog von der Hauptstraße in eine von Bäumen und Büschen gesäumte Allee ein. Die majestätischen Eichen- und Walnussbäume bildeten einen grünen Tunnel, den sie durchquerten, bevor sie an einem beeindruckenden Sandsteintor ankamen. Daneben stand ein silberner Mast mit einer Sprechanlage. Jenny verlangsamte das Tempo und ließ ihr Fenster herunter, dann drückte sie den Knopf.
»Jennifer Brock mit den Cartwrights, wir haben einen Termin.« Sie wandte sich ihnen zu und zwinkerte.
Einen Augenblick später ertönte ein Summen und die schweren Flügel des Tores öffneten sich langsam nach innen. Ben bemerkte, dass Kameras auf den Sandsteinsäulen angebracht waren.
»Astreine Sicherheit«, stellte er fest.
»Stimmt.« Jenny ließ den Wagen langsam anrollen. »Aber ich würde wetten, die ist eher dazu da, um die alten Herrschaften am Weglaufen zu hindern, als Eindringlinge fernzuhalten.«
Sie fuhren eine verschlungene Auffahrt entlang, bis sie das prachtvolle Anwesen erreichten. Es hatte nur zwei Etagen, war aber riesig groß. Kletterfeigen schmiegten sich an die Wände und ringsherum blühten Rosen. Alles wirkte grün und üppig und Ben sah Sonnenschirme unter bewachsenen Baldachinen, in deren Schatten einige Rollstühle standen. Kleine Köpfe voller flauschiger weißer Haare drehten sich und verfolgten ihre Ankunft.
Einen Moment später erschien eine Frau am Kopfe einiger steinerner Stufen und winkte ihnen freundlich zu. Sie trug einen blauen Cardigan über einer Seidenbluse und ihren Hals schmückten murmelgroße Perlen.
Zunächst lief sie über den Rasen zu den Rollstühlen und begrüßte einige der Einwohner. Sie klopfte ihnen auf die Schultern, goss Tee ein und lachte über etwas, das einer von ihnen sagte. Dann näherte sie sich Ben und Emma.
Ben war beeindruckt von dieser harmonischen und idyllischen Szene. Die Sonne schien ihm warm ins Gesicht, der Garten roch blumig und die Gäste sahen glücklich aus. Er wandte sich Emma zu. »Mach dir bitte eine Notiz. Hier würde ich gern in Rente gehen.«
Sie schnaubte. »Ich dachte, du wärst schon in Rente!«
»Miss Brock?« Das Lächeln der Frau war offen und ehrlich.
»Misses Hurley«, antwortete Jennifer und trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Sie begrüßten sich und Jennifer deutete auf ihre Freunde.
»Die Cartwrights. Benjamin und Emma.«
»Natürlich.« Sie streckte die Hand aus. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
Der Blick der älteren Lady musterte Ben vom Schuh bis zum Scheitel, ohne auch nur das kleinste Detail zu übersehen.
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