»Könnten Sie mir bitte etwas über die Besuchszeiten und Unterkünfte für Gäste sagen, wenn es Ihnen nichts ausmacht?« Sie stellte sich so hin, dass Misses Hurley vom Treppenhaus wegschaute.
Ben packte Emmas Arm und führte sie näher an den Pfosten heran. Vorsichtig legte er eine Hand auf den Globus und versuchte ihn zu drehen, zu kippen oder darauf zu drücken: Nichts passierte. Er klopfte mit den Knöcheln seiner Faust dagegen, doch er klang nicht hohl.
Wäre ja auch zu einfach, dachte er.
»Stell dich vor mich«, flüsterte er und Emma postierte sich zwischen ihm und einem der Pfleger. Ben kniete sich hin und öffnete seine Schnürsenkel, bevor er anfing, sie ganz langsam wieder zusammenzubinden. Dabei betrachtete er aufmerksam den hölzernen Pfosten. Er besaß absolut makellos polierte, gleichmäßige Oberflächen. Ben griff dahinter und tastete die unterste Stufe der Treppe ab – nichts, keine Schalter oder Grifflöcher.
Dann prüfte er die Stelle, wo der Pfosten auf den Fußboden traf. Zum Glück lag im Erdgeschoss kein Teppich, sodass der Blick auf den Dielenboden frei war. Dieser war ebenfalls so blankpoliert und glatt, dass man sich fast darin spiegeln konnte. Doch im Sockel des Pfostens entdeckte er drei Schraublöcher, eines auf jeder der freistehenden Seiten. Er legte seinen Zeigefinger auf die erste Schraube an der Vorderseite und drückte – nichts. Die zweite Schraube an der Seite – nichts. Doch die dritte Schraube auf der abgewandten Seite gab nach und plötzlich öffnete sich die Vertäfelung am Fuß der Treppe.
»Bingo«, sagte Emma leise.
Ben blickte zu ihr auf und zwinkerte, dann schaute er sich schnell nach Zuschauern um. Die Luft war rein, also schob er seine Hand in die Öffnung und spürte sofort einen in Stoff gehüllten Gegenstand. Er zog daran, doch in diesem Moment nahm er ein lauter werdendes elektronisches Surren wahr. Er schaute über seine Schulter.
Scheiße , dachte er, als er sah, dass sich eine alte Dame in einem batteriebetriebenen Rollstuhl näherte. Ihre blassen, trüben Augen wanderten von ihm zu dem geöffneten Fach.
Ben schnappte sich den Gegenstand und zog ihn heraus. Er war größer, dicker und schwerer, als er angenommen hatte. Er würde es niemals schaffen, unbemerkt damit abzuhauen.
Emma gab ihm einen leichten Tritt und er bemerkte, wie Jenny und Misses Hurley sich näherten.
Verdammt . Er schaute sich um. Die alte Dame war nur noch einen Meter von ihm entfernt und zog eine Augenbraue hoch.
»Hallihallo.« Er schloss das Geheimfach. »Halten Sie das doch bitte kurz!« Er legte ihr das Buch auf den Schoß und stellte sich dann schnell vor sie.
»Das war doch wirklich sehr interessant«, sagte er mit einem gequälten Lächeln.
»Sind Sie soweit zufrieden?«, fragte Misses Hurley mit festem Blick.
»Ich denke schon.« Emma konnte kaum an sich halten.
»Emma und ich werden heute Abend mit Mutter sprechen.« Hinter sich hörte Ben das Aufjaulen eines Elektromotors. Er drehte sich um und sah, wie die alte Dame auf eine große, offene Flügeltür zusteuerte.
»Wir melden uns.« Er packte Emma am Arm. »Vielen Dank für alles, Ihre Einrichtung ist wirklich wunderbar!«
Jenny lief bereits in Richtung Ausgang, doch Ben hielt Misses Hurley zurück. »Macht es Ihnen vielleicht etwas aus, wenn wir einen letzten Blick auf Ihren fantastischen Garten werfen?«
»Das können Sie selbstverständlich tun!« Misses Hurley hielt ihm ihre schlanke und sorgfältig gepflegte Hand hin.
Ben schüttelte sie und machte dann auf dem Absatz kehrt, wobei er Emma hinter sich herzog. Jenny blieb mit gerunzelter Stirn zurück und Ben spürte förmlich, wie Misses Hurleys kritischer Blick ihn mit jedem Schritt verfolgte.
Ben lief schnell auf die offene Tür zu.
»Was ist denn los?«, fragte Emma.
»Die alte Frau hat unser Notizbuch!« Er blieb stehen.
»Welche denn?« Emmas Augen weiteten sich, als sie in den Sonnenschein hinaustrat.
»Die mit dem Rollstuhl …«, setzte Ben an und stöhnte dann. Es gab hier dutzende von Senioren in Rollstühlen, die alle fast gleich aussahen. Alle hatten ordentlich frisierte weiße Haare und trugen weiße Baumwollkleidung, nur vereinzelt gab es kleine Farbtupfer.
»Was trug sie denn?«, fragte Emma.
»Altweiberklamotten.«
»Super, das schließt ja schon mal die meisten alten Opis aus«, zischte Emma.
»Na komm' schon, es ist Zeit für eine Kennenlernrunde!«
Ben legte sein charmantestes Lächeln auf und Emma hakte sich bei ihm unter. Gemeinsam spazierten sie von Rentner zu Rentner, lächelten, nickten und wechselten hier und da ein paar Worte.
Ben wünschte sich, er wäre etwas aufmerksamer gewesen, als er der Frau das Buch zugesteckt hatte. In seinem Magen machte sich Ungeduld breit – ihnen rannte die Zeit davon, doch plötzlich boxte ihm Emma in die Seite: »Schau dir das mal an!«
Im Schatten eines riesigen Kamelienbaums saß eine alte Frau mit einem Lächeln auf ihren Lippen.
Ben reckte den Hals. »Das könnte sie sein.«
»Ein Abenteuer steht an«, sagte die alte Dame und ihr Lächeln wurde breiter. Dann warf sie den Schal zurück, der von ihren Schultern auf ihren Schoß hing und legte damit das Stoffpaket frei.
Ben kniete vor ihr nieder. »Danke schön, auch dafür, dass Sie niemandem etwas gesagt haben.«
»Darf ich fragen, was das ist?«
»Ein Notizbuch, das meiner Familie gehört – um genau zu sein, meinem Ururgroßvater Benjamin Cartwright. Es befand sich im Besitz von Sir Arthur Conan Doyle, der es auch versteckt hat. Es sollte Benjamins Erben zugehen, doch das Wissen darum war jahrzehntelang verloren gegangen.« Ben lächelte und schaute in ihre interessierten Augen. »Ich bin hierhergekommen, um es aus der Versenkung zu befreien, doch dazu musste ich es erst finden.«
»Und Sie sind?«, fragte sie mit schiefgelegtem Kopf.
»Ben Cartwright«, lächelte er zurück. »Der Jüngere.«
Sie nickte. »Dann können Sie Ihr Erbe jetzt antreten.« Sie ließ die Hand über das verstaubte Leinen gleiten und stellte sich vor: »Rose Pennington.« Sie sah ihm in die Augen. »Aber eines sage ich Ihnen, wenn sich die Möglichkeit ergibt, werde ich selbst einmal in dieses Geheimfach schauen – wer weiß, was sich da noch für Schätze verbergen!«
Sie ergriff Bens Hand und er spürte kleine, vogelartige Knochen unter papiertrockener Haut. »Seit ich ein kleines Mädchen war, liebe ich Abenteuer. Aber das Alter macht es einem schwer, eigene Abenteuer zu erleben.« Sie drückte seine Hand. »Geben Sie mir Ihre Nummer. Wenn ich noch etwas finde, rufe ich Sie an!«
Ben nickte und tat, wie ihm geheißen. Er hielt ihr das Stück Papier entgegen und sie packte sein Handgelenk.
»Und sagen Sie mir, was Sie finden! Ich wittere Abenteuer, Geheimnisse und Gefahr!« Sie hob die Schultern und lächelte. »Wenn ich fünfzig Jahre jünger wäre, würde ich Sie zwingen, mich mitzunehmen.« Sie reichte ihm das alte Notizbuch. »Viel Glück und gute Jagd, Benjamin der Jüngere!«
Das Notizbuch lag aufgeklappt vor ihnen auf dem Tisch. Für mehr als nur einen Augenblick starrten sie alle fassungslos darauf.
Schließlich schaute Dan auf. »Ich sage, wir legen los … und zwar sofort!« Seine Augen glänzten.
»Wir sind noch nicht bereit«, meinte Steve.
»Und wie genau soll man sich auf so etwas vorbereiten?« Dan schaute in die Runde. »Wir sind alle hier, wir sind startklar, und ich kann diese Expedition bezahlen.« Er deutete auf Emma und dann reihum auf alle anderen. »Wir haben eine Kletterexpertin, einen Militärexperten, einen Handelsexperten …« Er schaute Andrea an, lächelte und ging dann direkt zu Jenny weiter. »Wir haben sogar eine Zoologin!«
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