Wenn man ihn fragte, was ihn damals gerettet hatte, so gab es nur eine Antwort: Das Büchlein mit Mutters und seinen besonderen Worten. Sie zu lesen hatte seine Mutter ein wenig ins Leben zurückgeholt.
Vielleicht war er deshalb Deutschlehrer geworden, um so seiner Mutter nahe zu sein. Sprache verbindet. Indem er die Leidenschaft seiner Mutter fortsetzte, lebte sie weiter. Sie, die erst nicht hatte fahren wollen bei Glatteis. Am Vater musste er nichts wiedergutmachen. Der hatte im Brustton der Überzeugung gesagt: »Wir fahren. Wenn mein Sohn ein wichtiges Turnier hat, bin ich dabei.« Was natürlich Quatsch war, so selten, wie er zuvor dabei gewesen war. Martin erinnerte sich kaum an ihn. Wieso kam ihm erst jetzt sein Vater in den Sinn? Weil der Vater ohnehin nie eine Rolle gespielt hatte, hatte er ihn aus seinem Denken ausgeklammert. Es erschien fast wie ein dummer Zufall, dass er diese eine Fahrt am Steuer gesessen hatte, wo doch seine Mutter von Anfang an nicht hatte fahren wollen. Als hätte sie geahnt, dass es die letzte Fahrt sein würde. Ja, seinen Vater traf eine gewisse Schuld. Wer weiß – wäre er ein anwesender Vater gewesen, hätte jedem wichtigen Turnier zuvor beigewohnt, hätte er sagen können: »Martin, ich habe alle deine wichtigen Turniere gesehen, da müssen wir nicht bei Glatteis unser Leben riskieren.«
Er stöhnte. Scheinbar hütete das Haus seine Vergangenheit und spuckte sie aus, sobald er es betrat.
Auf dem Bett lag nun ein Haufen gut erhaltener Kostüme. Noch heute sah er seine Großmutter damit im Dorf herumgehen – die Frau, die den Tod der Tochter verkraften und den Enkel großziehen musste.
Ich mochte ihre Großmutter, sie war irgendwie eine Dame von Welt.
Wen interessierte schon die Wahrheit? Seine Wahrheit? Die Kleidungsstücke sahen alle gut aus und rochen, als seien sie gerade aus der Reinigung gekommen. Er wollte sie loswerden, holte einen Müllsack, dachte an Krimis, in denen Leichenteile in Säcke verpackt und im Wasser versenkt wurden.
Weggeschmissen wird nichts.
Ja, Papa.
In der Nähe seiner Stadtwohnung gab es diesen Secondhandladen. Warum nicht, dachte er. Er schulterte die Säcke, was seinen Lendenwirbeln nicht gefiel, ließ sie im Flur noch einmal ab, nahm seine Jacke von der Garderobe und kontrollierte, ob Haus- und Wagenschlüssel in der Tasche waren. Dann schulterte er die Säcke erneut, verließ das Haus und packte sie in den Kofferraum seines Volvos, der auf dem Parkstreifen stand. Er schwitzte. Den Stirnschweiß wischte er mit seinem Jackenärmel weg, stieg ein und fuhr los.
Ob er die Kleider verkaufen konnte? Dann hätten andere noch etwas davon. Und das zu einem günstigen Preis. Vielleicht verschenkte er sie einfach. Sein Vater wäre sicher stolz auf ihn gewesen. Er wollte ein für alle Mal seine Ruhe. Gerade gab der Radiosprecher die Arbeitslosenzahlen durch. Martin wäre nur froh, seine Arbeit endlich los zu sein. Warum merkte er erst jetzt, dass sie so sehr an ihm nagte? Begriff er das erst im Angesicht des Todes? War das zu spät? Er fühlte sich ausgezehrt, nicht einmal der Gedanke an einen alternativen Beruf hob seine Laune. Seine Gedanken galten einzig dem Wann und Wie seines Ausstiegs aus dem Lehrerberuf.
Er bog in die Veilchenstraße ein, wo sich der Secondhandladen befand und fand genau davor einen Parkplatz. Im Schaufenster des Secondhandladens waren Sommerkleider, Schuhe und Handtaschen für Frauen ausgestellt. Alles sah neu aus. Warum trennten sich die Menschen so schnell von den Dingen, fragte Martin sich und drückte den Türgriff nach unten. Der fröhliche Klang des Windspiels, das die Inhaberin, wie sich herausstellte, als Türglocke verwendete, löste seine Anspannung ein wenig.
»Ich habe drei Säcke Kleider im Auto, würden Sie sich die einmal ansehen?«
»Immer gerne«, sagte die Verkäuferin.
Noch zweimal freute Martin sich über den Klang des Windspiels, dann wuchtete er die Säcke auf den Tresen, auf den die Verkäuferin deutete.
»Dann zeigen Sie mal.«
Martin öffnete wahllos einen der Säcke und nahm ein paar Stücke heraus. Die Verkäuferin begutachtete sie und fragte, ob der Rest ähnlich sei.
»Ähnlich?«
»Für ältere Damen.«
»Nun ja …«, Martin verstand nicht.
»Es tut mir leid, dafür habe ich keine Verwendung. Bei mir kaufen jüngere Frauen ein. Auf dieser Ware würde ich sitzen bleiben. Wenngleich die Stücke sehr schön und von guter Qualität sind.«
»Keine Chance?«, fragte Martin.
»Da müssen Sie schon selbst einen Secondhandladen eröffnen.«
»Ich überlege es mir«, sagte er zu der Dame und ging so beladen, wie er gekommen war.
Müssen Sie schon selbst waren Worte, die sich eingebrannt hatten in Martins Leben. Wie oft hatte seine Mutter gesagt: »Das musst du schon selbst probieren, Martin.« Wobei probieren austauschbar war. Gültig waren Verben wie lesen, erfahren, tun, rausfinden und viele mehr. Einzig das Wort selbst war unersetzlich.
Bevor er den Kofferraumdeckel schloss, sah er gedankenversunken auf die Säcke und fragte sich, wie es wohl wäre, getragene Kleider überzuziehen? Wie wäre es, eine andere Frau in Großmutters Kleidern zu sehen? Oder einen anderen Mann, einen Transvestiten – veränderte sich das eigene Ich, wenn man getragene Kleider anzog? Wie fühlte es sich an, sich ein anderes Leben überzustülpen? Und weil er jetzt in diesem Denkmeer schwamm, sein Leben zu verändern, betrat er den Secondhandladen erneut.
»Was muss man denn machen, wenn man selbst einen Secondhandladen eröffnen will?«
»Das ist ganz einfach«, sagte die nette Frau.
Auf der Rückbank des Volvos klapperten die Stangen der beiden fahrbaren Kleiderständer, die ihm die Verkäuferin aus dem Secondhandladen für wenige Euros überlassen hatte. Wenigstens hörte er jetzt die Geräusche nicht mehr, die anzeigten, dass der Volvo seinem Ende entgegenfuhr.
Er parkte vor dem Haus seiner Großmutter und schulterte die Kleidersäcke ein weiteres Mal. Frau Wondra kam aus ihrem Haus.
»Hallo Martin, na, was trägst du denn Schweres?«
Sie fasste einen der Säcke an, aus dem ein Stoffstück herausschaute, dann sagte sie: »Ach, das ist doch Irmgards Lieblingskleid. Und das hier«, sie zog einfach etwas aus dem Sack, »das hat sie immer in der Kirche angezogen. Sie hat immer auf ihr Äußeres geachtet.«
Martin sagte nichts, beschleunigte seine Schritte, stolperte über einen Stein und beide Säcke fielen zu Boden. Frau Wondra bückte sich sofort. »Soll ich dir helfen? Wir sind wieder Nachbarn!«
Im Gegensatz zu ihm schien ihren alten Rücken das Bücken nicht zu stören. Martin sah ihr zu, wie sie sich mit einer Leichtigkeit, die er gerade entbehrte, aufrichtete.
»Wenn du meinen Rat willst«, sie roch daran, »lass das alles reinigen, sonst kannst du das nicht verkaufen.«
Frau Wondra wusste, was er vorhatte, ohne dass er ein Wort darüber verloren hatte. Nach Verkaufen war ihm nun grade aber gar nicht, ihm war nach Entspannung, nach Ausruhen zumute.
Als er viel später in den Garten hinaustrat, vernahm er Frau Wondras Schnarchen durch ihr offenes Fenster. Es hatte einen zufriedenen Beiklang und er staunte, wie laut Frauen schnarchen konnten. Dann holte er die Kleiderstangen aus dem Auto und stellte sie ins Wohnzimmer.
Fünftes Kapitel
Kofferträume
Am Abend saß er auf der dunkelgrünen Wohnzimmercouch seiner Großmutter und sah sich um. An der gegenüberliegenden Wand stach ihm das Gemälde der Sonnenblume in dem goldenen Rahmen ins Auge. Er dachte es weg. Er starrte auf die nussbraune Schrankwand linker Hand und dachte auch sie weg. Dann besah er sich den Boden. Schon früher war ihm der Perserteppich ein Dorn im Auge gewesen. Seiner Mutter hatte er auch nicht gefallen. Der wunderschöne Holzfußboden kam nicht zur Geltung.
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