© 2021 – e-book-Ausgabe
RHEIN-MOSEL-VERLAG
Zell/Mosel
Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel
Tel 06542/5151 Fax 06542/61158
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-89801-908-8
Lektorat: Christine Kaula
Ausstattung: Stefanie Thur
Titelfoto: Dmitri Ma/shutterstock.com
Birgit Jennerjahn-Hakenes
Zeit verteilt auf alle Wunden
Roman
Rhein-Mosel-Verlag
Erstes Kapitel
Winterblitz und Staubschauer
Martin starrte auf die roten Zahlen seines Radioweckers. 3:53 Uhr. Somit lag er jetzt seit zwei Stunden und neunundzwanzig Minuten wach. Blieben noch zwei Stunden und sieben Minuten, bis ihm der Wecker um sechs Uhr die Nachrichten verkünden würde, und er sich für einen weiteren Tag an der Schule fertigmachen musste – ein Gedanke, bei dem sich jetzt schon sein Magen zusammenzog. Er schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen, da läutete das Festnetztelefon. Martin wunderte sich, er wurde nur höchst selten angerufen, aber dann gewiss nicht um diese Uhrzeit. Da es nicht aufhörte zu klingeln, quälte er sich aus dem Bett, lief die Treppen hinunter zum Flurschränkchen und griff nach dem Telefon, das dort in der Ladestation stand.
»Wachs.«
»Hallo Herr Wachs, hier spricht Schwester Tamara aus dem Hospiz. Bitte entschuldigen Sie, dass ich um diese Uhrzeit anrufe, aber es wäre gut, wenn Sie herkommen könnten. Ihre Großmutter … es geht zu Ende.«
Martin nahm auf der drittletzten Treppenstufe Platz. Er spürte die kalten Fliesen durch seine Boxershorts.
»Herr Wachs? Sind Sie noch am Apparat?«
»Ja.«
»Würden Sie bitte kommen? Ihre Großmutter sagt unentwegt Ihren Namen.«
Martin blieb stumm.
»Ich weiß, es ist früh«, sagte Schwester Tamara.
»Früh fängt bei mir später an.«
»Bitte, Herr Wachs!«
»Ich kann ihr nicht helfen.«
»Sie sollen ihr auch nicht helfen, sondern nur zuhören. Es scheint, als wolle sie Ihnen noch etwas sagen.«
Martin betrachtete seine Fingernägel. Er sollte sie schneiden.
»Ich brauche eine halbe Stunde«, sagte er, obwohl er es in einer viel kürzeren Zeit hätte schaffen können.
Das Erste, das ihm auffiel, als er hinter Schwester Tamara das Zimmer seiner Großmutter betrat, war der grelle Schein der Nachttischlampe. Ein Bühnenlicht für das Sterben, dachte er.
»Setzen Sie sich zu ihr«, bat Schwester Tamara.
»Danke, ich bleibe lieber stehen«, sagte Martin und verharrte an der Tür.
Trotzdem schob die Schwester einen Stuhl an das Bett und kam dann seufzend auf ihn zu. »Hören Sie, ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Ihrer Großmutter vorgefallen ist. Es geht mich auch nichts an. Aber ich betreue schon lange sterbende Menschen und habe den Eindruck, dass sie Ihnen noch etwas sagen will.«
Martin sah zu dem Stuhl und wunderte sich, dass es möglich war, drei Meter als eine unüberwindbare Strecke zu empfinden. Sein Blick wanderte wieder zum Bett. Da lag die Frau, die seine Mutter geboren hatte. Nun würde das letzte Band zerreißen. Es spielte keine Rolle, ob dieses Band bereits mit dem Tod seiner Mutter einen Riss bekommen hatte. Den ersten von vielen. Trotzdem war sie für ihn da gewesen. So gut sie eben konnte. Vor dem Tod der Mutter war alles anders gewesen. Da waren sie eine richtige Familie gewesen: seine Mutter, er und die Großmutter. Fröhlich am Küchentisch, einander Geschichten erzählend und lachend. Mit diesem Bild im Kopf fiel es ihm jetzt leichter, auf seine Großmutter zuzugehen. Der aschfahle Teppich verschluckte seine schweren Schritte, dann stand er vor ihr. Über der Bettdecke lagen ihre Hände – gefaltet, als sei sie schon tot. Martin sah auf ihren Kopf, der ihm sehr klein vorkam, wie er da im Kissen eingesunken lag. Ob man dem Leben davonschrumpfen konnte? Ihre Augen waren geschlossen, ihr Atmen klang angestrengt. Als Kind hatte ihm ihre robuste Erscheinung Angst eingeflößt, jetzt verschwand ihre Gestalt beinahe unter der Bettdecke wie eine Erinnerung aus dem Gedächtnis. Ein trauriges Bild. Das Verschwinden. Für immer. Martin bekam einen Kloß im Hals und spürte plötzlich eine ihm nur allzu bekannte Last auf seinen Schultern. Sie war wieder da, schwerer denn je. Sofort tauchten auch die grausamen Bilder wieder vor ihm auf. Der Aufprall. Die Schreie. Dann Stille – die gleiche wie jetzt. Unumkehrbar. Endgültig. Seine Mutter, die Augen weit offen und für immer erstarrt.
Weil er schwitzte, zog er seine dunkelblaue Steppjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Er musste sich setzen. Sein Smartphone drückte in der Gesäßtasche seiner Jeans und der Wollpullover kratzte, obwohl er ein T-Shirt darunter trug. Sehr gern wäre er fortgegangen, blieb aber trotzdem sitzen und schaute seine Großmutter wieder an. So sah es also aus: ein Lebensende. Wie alt war Großmutter? Er rechnete nach und kam auf achtundneunzig Jahre.
»Schauen Sie, sie öffnet die Augen«, sagte Schwester Tamara, »ich lasse Sie nun alleine. Wenn etwas ist, können Sie mich hiermit rufen.« Sie deutete auf den Klingelknopf, der an einer Schnur am Bettgalgen hing.
Als die Schwester die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaute Martin seiner Großmutter in die Augen. »Ich bin’s«, sagte er, »Martin.«
Sie erwiderte den Blick und presste die Lippen aufeinander, ein brummendes »mm« kam heraus, Martin sah, wie sehr sie sich anstrengte. Die eingefallenen Wangen blähten sich leicht auf, er erinnerte sich daran, wie er als Kind nicht genug Puste gehabt hatte, um einen Luftballon aufzublasen. Sie hatte es dann für ihn getan. Was sollte er jetzt tun? Er hielt den Blickkontakt. Großmutters Augen erschienen ihm unnatürlich weit. Er ahnte nicht einmal, was ihr Blick sagen wollte. Er spürte nur ihr Wohlwollen ihm gegenüber, und das war schon viel. Trotz der aussichtslosen Situation freute er sich darüber. Aber etwas in ihren Augen war anders als bei allen anderen Menschen. Die Lederhaut war gelb unterlaufen, ihr Blick sah sehr krank aus, ungewollt leblos. Er erschrak. Leiden tropfte tränenlos aus Großmutters Blick. Martin bekam Mitleid. Sie mussten nicht darüber sprechen. Gleich käme der Tod und würde sie mitnehmen. Der Tod war alles andere als minimalistisch, dachte er, wehrte sich gegen das Wort gigantomanisch und atmete schneller, weil etwas in ihm aufstieg, was nach außen drängte. Um sich zu beruhigen, sah er auf seine Hände und knetete sie, aber es half nicht. Wieder blickte er seine Großmutter an. Ihre Augenlider flackerten jetzt wie eine defekte Glühbirne. Dann blieben die Augen wieder offen, schauten ihn durchdringend an. Ihm war, als würde Großmutter ihm zunicken. Martin erwiderte die Geste, um sie zu ermuntern, zu sagen, was sie ihm noch zu sagen hatte. Speichelfäden krochen aus ihrem Mund; sie röchelte. Ihm stieß das kohlensäurehaltige Fruchtgetränk auf, das er vor der Abfahrt in sich hineingeschüttet hatte. Nein, er konnte das doch nicht. Hier sitzen. Sie begleiten. Er sprang auf, der Stuhl kippte und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Teppichboden. Martin hob ihn nicht auf, sondern stürmte aus dem Zimmer und prallte mit einer Frau zusammen.
»Hoppla«, sagte die Frau.
Martin schenkte ihr einen kurzen Blick und wollte weiter, aber plötzlich wurde ihm so schwindelig, dass er sich an der Wand abstützen musste.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte die Frau. Ihr Haar war so schwarz, dass es sich noch von der Dunkelheit im Flur abhob.
Allmählich gewöhnte Martin sich an das spärliche Flurlicht. Er erkannte den Ausgang am Ende des Ganges. Raus hier, dachte er, ich muss raus hier und setzte einen Fuß vor den anderen. Da fragte die Frau noch einmal: »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke, ich möchte gehen«, sagte er. Das allerdings so leise, als spräche er nur zu sich selbst.
Er hatte die Ausgangstür noch nicht erreicht, als mit einem Mal das Deckenlicht aufleuchtete.
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