Aber Martin fühlte sich jetzt alt. Alt und müde. Egal, was die Zahlen sagten.
Er setzte sich in Großmutters Fernsehsessel und schaute sich um. Früher war es das Tollste gewesen, wenn Großmutter ihm erlaubte, in ihrem Sessel das Sandmännchen zu sehen, auf dem Schoß einen Erdbeermarmeladentoast, noch warm, die Butter zerlaufen, die Marmelade ganz dick obendrauf. Er sah seine Mutter lächeln.
Erdbeertoast zum Abendessen, na, du wirst verwöhnt!
Und so schrecklich er die nussbraune Schrankwand auch fand, so furchtbar das Gemälde einer Sonnenblume in dem goldenen Rahmen, so fragwürdig das Belegen des wunderschönen Eichenfußbodens mit den geknüpften Teppichen – all das vermittelte doch ein seltsames Gefühl von, ja, es mochte wohl Heimat sein, was ihn all diese Dinge spüren ließen. Und das, obwohl seine Mutter immer nur vom Übergang gesprochen hatte. Wir wohnen hier nur zum Übergang. Wenn Papa zum Arbeiten nicht mehr so viel in der Weltgeschichte rumfahren muss, bauen wir unser eigenes Haus. Aber dazu war es dann nicht mehr gekommen.
Martin kam der Gedanke, dass man aus dem Haus etwas machen könnte. Dieser Blick in den Garten war unbezahlbar. Osterglocken und die beiden Zwergmagnolien trauten sich schon hervor, und an vielen Stellen drängte lebhaftes Grün aus der Erde. Welche Farben mochten die Tulpen haben, die sich da gerade aus dem Boden schoben?
Wetten, dass zuerst eine weiße blüht?
Um eine Tafel Schokolade, Mama, zuerst wird eine rote blühen.
Martin ging nach draußen. Er hatte noch keine Sekunde dort gestanden, da holte ihn Frau Wondra ins Hier und Jetzt zurück.
In ihrem verwilderten Garten stand sie da, sah zu ihm rüber und lächelte ihn an. Trotz Trauerschwarz strahlte sie Lebensfreude aus. Wie ging das , fragte er sich. Zum ersten Mal drängte es ihn, sie zu fragen, warum sie niemals wieder Farbe getragen hatte. Aber ehe er sich versah, war sie wieder hineingegangen. Auch er ging wieder rein, schloss die Terrassentür, verließ das Haus und eilte zum Auto. Er wollte Klarheit. Hoffentlich lag die Karte des Notars noch auf dem Beifahrersitz.
Er ließ das Auto an und stellte fest, dass das Benzin bald leer war, weshalb er an der Tankstelle in der Dorfhauptstraße hielt. Er steckte den Zapfhahn in den Tank, verankerte ihn und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, auf deren Sitz sein Geldbeutel lag. Er bückte sich danach und stieß sich den Kopf, als er wieder hochkam.
»Wehgetan?«, fragte eine Frau, die aus einem Auto stieg, das hinter ihm gehalten hatte.
»Geht schon, danke«, sagte Martin und betrachtete die Frau. Diese schwarz glänzenden Haare hatte er schon einmal gesehen. Auch sie schien ihn erkannt zu haben, zumindest sah sie ihn irgendwie wissend an.
»Sie sind doch der Enkel von Frau Vollmer.«
»Kennen wir uns?«
»Neulich morgen im Hospiz, wir…«
… sind zusammengestoßen , dachte Martin, ja, da fiel es ihm wieder ein. »Ach ja«, sagte er und spürte den Drang, schnell von hier wegzukommen.
»Wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke«, sagte er und fragte sich sogleich, ob das eine passende Antwort gewesen war, wenn ein Familienangehöriger verstorben war. Schon bemerkte er ihren durchdringenden Blick, wie neulich nachts.
Brauchen Sie Hilfe?
Nein, danke, ich möchte gehen.
»Ich mochte Ihre Großmutter, sie war irgendwie eine Dame von Welt.«
Martin wusste nicht, was er sagen sollte und hob den Geldbeutel zum Zeichen, dass er zum Bezahlen gehen wollte. Als er zurückkam, war auch sie fertig mit Tanken. »Alles Gute«, sagte sie. Martin hatte den Eindruck, sie wollte noch mehr sagen, aber da fuhr schon der nächste Wagen hinter ihnen die Zapfsäule an, sie standen im Weg. Erleichtert, keine Konversation betreiben zu müssen, setzte er sich in seinen Wagen, fuhr los und ertappte sich dabei, wie er versuchte, im Rückspiegel nochmals einen Blick auf diese schwarzen Haare zu erhaschen.
Zehn Minuten fuhr er durch ein bewaldetes Gebiet, dann erreichte er seine Stadt. Er kannte die Straße, die er auf der Visitenkarte gelesen hatte: Fliederstraße. Hier standen die schönsten Altbauten der Gegend. Direkt vor dem imposanten Gebäude mit der Hausnummer dreiundzwanzig war ein Parkplatz frei. Gebührenpflichtig. Normalerweise dachte er immer daran, ein paar Parkmünzen parat zu haben, aber heute hatte er kein Kleingeld dabei. Er schüttelte den Kopf über sich selbst.
Eine Sekretärin, deren Augenpartie hinter einer riesigen Brille verschwand, musterte ihn etwas abschätzig, wie er fand, wurde aber freundlicher, als er seinen Namen genannt hatte. Dr. Deinig sei zu Mittag, er könne gerne warten. »Ich hätte mir wohl einen Termin holen sollen«, sprach er die Sekretärin nach einer Viertelstunde an.
»Normalerweise ja«, sagte sie und sah kurz vom Computerbildschirm auf. Das Aber, nach dem der Satz klang, führte sie nicht weiter aus. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie.
»Ja, gerne«, sagte Martin lauter, als er wollte.
Als Dr. Deinig schließlich vom Mittagstisch kam, rumorte es schon wieder in Martins Bauch. Die sportliche Erscheinung des Notars erinnerte ihn daran, dass er ab und zu daran dachte, sich besser zu ernähren. Leichte Kost, mehr Obst und Gemüse, statt Bratkartoffeln mit viel Speck.
»Herr Wachs, wie schön!«
Martin verstand nicht. Er hatte sich nicht vorgestellt.
Eine gute halbe Stunde später trat er wieder aus dem Altbaugebäude heraus. Ihm schwindelte. Der Notar hatte ihn nach der Testamentsverlesung angesehen, als müsse Martin ihm persönlich Danke sagen. Wohl auch, weil er darüber hinwegsah, das Testament vor der Beisetzung zu verlesen. Scheinbar waren der Notar und Großmutter alte Bekannte gewesen. Dr. Deinigs Gesichtsausdruck hatte ständig gewechselt zwischen Trauer und dem Strahlen, das man um die Augen hat, wenn man einem anderen Menschen eine gute Nachricht überbringen darf.
Martin ging zu seinem Auto. Im Näherkommen sah er eine Politesse einen Strafzettel unter das Wischblatt klemmen.
Das geschah ihm recht.
Er erbte siebenundneunzigtausend Euro und Großmutters Haus. Und jetzt? Sie lag noch nicht einmal unter der Erde, da konnte er doch nicht darüber nachdenken, was er nun mit dem Erbe anfangen sollte. Aber Denken war nichts, das sich abstellen ließ. Sollte er das Haus verkaufen? Es war alt, das Innenleben gehörte runderneuert, vielleicht sogar das Dach neu gedeckt – der Wert des Anwesens lag eher im Grundstück. Die Preise hier in Süddeutschland waren kontinuierlich hoch. Was könnte er verlangen? Wie lange könnte er mit dem Geld auskommen, ohne – er traute sich kaum, das zu Ende zu denken – ohne sich als Lehrer abmühen zu müssen?
Den Wagen startete er mit dem Gefühl, er würde in ein neues Leben starten.
Wherever I lay my hat, that’s my home , drang es aus dem Autoradio in seine Gedanken. Wo war sein home ? Er schaltete das Radio wieder aus.
Seine Maisonettewohnung in der Stadt war sehr schön. Hell und freundlich, wie es in den Wohnungsanzeigen immer hieß, zentral gelegen, aber teuer. Und groß. Ausgelegt für mindestens zwei Menschen, wenn nicht gar für eine Familie mit zwei Kindern. Die Zeit mit Maria tauchte aus dem Nebel auf. Zehn Jahre waren sie zusammen gewesen. Und dann war Maria von einem auf den anderen Tag gegangen. Weil er keine Wurzeln schlagen wollte, indem er mit ihr Kinder in die Welt setzte. Weil er keine Familie wollte. Weil er unter den Folgen seiner Kindheit litt. Maria gab seiner Großmutter die Schuld an seiner Unfähigkeit, Ja zu einer eigenen Familie zu sagen und reichte die Scheidung ein. Soweit er wusste, hatte sie inzwischen drei Kinder. Und er? Hatte nie an das große Glück geglaubt. Jetzt hatte er gar keine Familie mehr. Nicht einmal entfernte Verwandte. Er hatte nur dieses Haus. Und dann ermahnte er sich, zückte wie so oft seinen imaginären Rotstift und strich das Wort nur aus dem Satz.
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