Fritz Eckenga
Alle Zeitfenster auf Kipp
Geschichten und Gedichte aus der angewandten Wirklichkeit
FUEGO
Über dieses Buch
Fritz Eckenga lässt sein Fenster geöffnet. Durchzug sorgt für frische Luft. Der Zeitgeist? Eine vorübergehende Erscheinung. Er hat keine Chance, zu lange durch die Bude zu spuken. Wenn er lästig fällt, fliegt er raus. Genauso wie die elektrischen Geräte, die die vorgeblich große Welt in die vier Wände übertragen. Ausschalten ist eine Möglichkeit. Das offene Fenster bietet eine Alternative.
Eckenga lässt die Experten, die den Mittelschlichten immer die ganz komplizierten Sachen erklären, nicht zu nah an sich heran. Lieber macht er eigene Spazier- und Gedankengänge, beschreibt und bedichtet die Welt, wie sie sich ihm zur Verfügung oder in den Weg stellt.
Seine Geschichten schlendern über Westfälische Wochenmärkte, auf denen elegant frisierte Damen den Champignons auch nur vor die Köpfe schauen können. Sie klettern auf Tessiner Almwiesen, wo aus übel riechenden Ziegen duftende Lebensmittel extrahiert werden. Sie machen Rast in Parkanlagen, in denen hochbegabte Gören ihren dummen Müttern erläutern, warum Flamingos erst nach brutaler Beinamputation und anschließender Blutwäsche rosa werden.
Bei der Lektüre von Fritz Eckengas neuem Geschichten- und Gedichteband erfährt der Leser, was ein sterbender Opel-Kadett und ein erstickender Tintenfisch gemein haben, wie man in vier Gedichtzeilen die Deutsche Integrationsdebatte über den Haufen reimt und wann der Dativ im Ruhrgebiet kein Ausnahmefall ist. Da der Autor in der Deutschen Meisterstadt zuhause ist, gibt er kernkompetent Auskunft darüber, dass man bei der Farbkombination Schwarzgelb nicht Schauriges wie »Bundesregierung«, sondern Schönes wie »Borussia« assoziieren darf.
Für die Bottroper Botschaften
Von der Größe der Dinge
Schon sehr früh in meinem Leben, im Alter von vier Jahren, habe ich mich dazu entschlossen, kein Tagebuch zu führen. Ich will nicht verheimlichen, dass die Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt dem Umstand geschuldet war, dass ich noch gar nicht schreiben konnte. Doch auch nach Erlernen der Technik habe ich den Entschluss nie bereut. Die wenigen, wirklich wichtigen Erlebnisse brennen sich einem ohnehin fotografisch ins Gedächtnis ein. Will ich mich an sie erinnern, muss ich nur das betriebsinterne Bilderalbum durchblättern. Eine Beschäftigung, die manchmal zeit- und nervenraubend, oft vergeblich, aber bestimmt nicht mühseliger ist, als aus etlichen Metern schwedischer Pressspanregale verstaubte Jahrgangskladden zu klauben, in denen man das eigene Leben katalogisiert und vertagebucht hat. Außerdem bietet einem das nachträgliche schriftliche Niederlegen des Erlebten die vielfältigeren Möglichkeiten. Je größer die Distanz zum Ereignis, desto wichtiger der Einsatz von Phantasie. Je vergilbter die Fotos, je klaffender die Gedächtnislücken, desto zwingender die Notwendigkeit, sich gefälligst etwas aus- und dazuzudenken. Schon Aristoteles wusste: »Gegenstand der Erinnerung ist eigentlich alles, wovon man sich ein Phantasiebild machen kann.«
Ich war vier Jahre alt und fast alle Dinge um mich herum hatten riesige Dimensionen. Der Sessel, in dem ich sitzen musste, war viel zu groß. Oben an der Rückenlehne war eine Nackenstütze angebracht. Erst, als ich ein paar Kissen unter dem Hintern hatte, kam ich mit dem Kopf hoch genug. Frisöre hatten solche Sessel. Man konnte sie mit einer Fußpumpe höher stellen, damit der Haareschneider sich bei seiner Arbeit nicht soweit runterbeugen musste.
Ich wusste nicht, dass man sich beim Krankenhaus-Doktor auch in diese riesigen Dinger setzen muss. »Die Schwester tut dir jetzt einen Latz um«, brummte der Kinderschreck. So hatten meine Eltern den Arzt mal genannt, als sie leise darüber redeten, dass ich bald ins Krankenhaus muss, damit er mir da die entzündeten Mandeln rausoperiert. Sie dachten, ich bekäme das nicht mit. Ich hatte das aber mitbekommen und seitdem hatte ich Angst vor dem Kinderschreck. Jetzt stellte sich raus, dass sie sehr berechtigt war.
Der große weiße Mann hatte Hände wie Bratpfannen. Sie steckten in Plastikhandschuhen und hielten zwei Metallgriffe, an denen eine Schlinge befestigt war. Kinderschreck trat einen Schritt zurück, während seine Gehilfin mir den Umhang umband. Die dicke Frau, die Schreck »Schwester« genannt hatte, war als katholischer Riesenpinguin verkleidet. Bodenlanger, schwarzer Umhang, darüber eine Schürze, Kopfhaube mit weißer Halsbandage, daran baumelte ein goldenes Kruzifix an einer Kette. Das Pinguinmonster roch, als würde es in einem feuchten Kleiderschrank gehalten. Nur, wenn es seinen blutrünstigen Besitzer danach gelüstete, eitrige Mandeln aus Kinderhälsen rauszuschneiden, bekam es Auslauf. Dann durfte es den muffigen Monsterschrank verlassen, dem kleinen Opfer ein paar Kissen unter den Hintern schieben, ein riesiges Laken umbinden und mit grabeskalter Stimme den einzigen Satz sagen, den man ihm beigebracht hatte: »Schön still sitzen, das tut gleich nicht weh!«
Selbstverständlich hatte Pinguin gelogen. Selbstverständlich tat es ganz scheußlich weh, denn im Interesse dieser Geschichte wurden solche Operationen zu jener Zeit selbstverständlich ohne jegliche Betäubung durchgeführt. »Ahhh sagen!«, schnauzte Kinderschreck, steckte mir die Schlinge in den Hals und riss an den Griffen. Ich wollte brüllen, konnte aber nur würgen. Ich würgte, er riss, ich würgte, er riss. Dabei rückte er mit seiner vom Mundschutz halb verhüllten Bluthochdruckvisage immer näher an seinen Operationskrater heran. Er riss, ich würgte, ich würgte, er riss und nach ewig langem Reißenundwürgen spie ich ihm mit Gebrüll endlich einen großen Batzen klumpig Rotes auf Mundschutz und Kittel. Kinderschreck entsprach jetzt endgültig auch äußerlich seinem Namen. In diesem Aufzug hätte er bei jeder ernstzunehmenden Geisterbahn eine Lebensstellung antreten dürfen. Danach stand dem Überqualifizierten aber offenbar nicht der Sinn. Angewidert machte er einen Satz rückwärts und schrie ein nur wenig durch den Mundschutz gedämpftes »Scheiße!« in Richtung Pinguin.
Hier werden meine farbigen Erinnerungen plötzlich undeutlich. Vergilbte Schwarzweiß-Fragmente mit gezacktem Rand, sich langsam auflösende Schemen. Dann reißen sie ganz ab. Bestimmt fiel ich in einen langen, tiefen und traumlosen Schlaf oder etwas vergleichbar schundromanartiges.
Als ich wieder aufwachte, waren die Schmerzen verschwunden. Dem Himmel sei Dank, denn in Dortmund war soeben die Bundesgartenschau, der spätere Westfalenpark eröffnet worden. Ich hatte mich gerade dazu entschlossen, niemals in meinem Leben Tagebuch zu führen. Die Niederschrift der Geschichte über die brutale Mandelentfernung musste also noch warten, bis sie wirklich reif war. Das würde ihr guttun. Außerdem war es viel vernünftiger, die aufregende Zeit zu nutzen, um Grundlagen für neue Erinnerungen zu schaffen.
Ich war vier Jahre alt und und fast alle Dinge um mich herum hatten riesige Dimensionen. Der Sessel, in dem ich saß, war viel zu groß für mich. Ein Sicherheitsbügel sorgte dafür, dass ich nicht vorne heraus- und hinunterfallen konnte. Der Sessel hing an einem langen Anker, an dessen oberen Ende ein großes Rad befestigt war. Das Rad lief über ein dickes Stahlseil. Das Seil war hoch und weit über den Park gespannt. Wahrscheinlich hundert Meter hoch und zehn Kilometer weit. Die Erwachsenen verboten einem, rumzuzappeln. »Zappel nicht rum, sonst kippsse da raus und dann fliegsse runter und dann bleibt nur noch ’n Fettfleck von dir übrig!« Man musste also schon verdammt mutig sein, wenn man da einstieg. Die riesige Sesselbahn war eine der gewaltigen Attraktionen der Bundesgartenschau 1959. Sowas hatte die Welt, soweit sie in Dortmund wohnte, vier Jahre alt und drei Käse hoch war, noch nicht gesehen. Nach zwei Dutzend Fahrten hatte die Bahn ihren größten Schrecken, nicht aber ihre Faszination verloren. Von da oben genoss der mutige Weltbewohner einen weiten Blick über hollandgroße Tulpenfelder mit zig-Millionen, streng nach Farben geordneten Blüten: eine Million rote, eine Million gelbe, eine Million weiße und so weiter, solange eben, bis es zig-Millionen waren; auf den Turm, den Fernsehturm »Florian«, 1959 war er das größte Gebäude Deutschlands; über rasierte Rasenflächen, mehr als alle Aschenplatzfußballfelder der Stadt zusammen; über weite, sanft zu einem See abfallende Hänge. Aus dem See, den die Erwachsenen Teich nannten, schossen einmal in der Stunde riesige Wasserfontänen, die größer und kleiner wurden, je nachdem, wie die Musik spielte. Das nannten sie Wasserorgel.
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