Jan Mohnhaupt - Auf der Kippe

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Der frühere Stürmer Michael Tönnies litt jahrelang an einer unheilbaren Lungenkrankheit. Erst der ausdauernde Einsatz zahlreicher MSV-Fans konnte ihn dazu ermutigen, sich einer überlebenswichtigen Lungentransplantation zu unterziehen. Der Journalist Jan Mohnhaupt hat nun in enger Zusammenarbeit mit Michael Tönnies dessen ungewöhnliche Lebensgeschichte aufgeschrieben. Michael Tönnies hat eine Profikarriere gelebt, wie es sie heute nicht mehr gibt. Samstags in der Bundesliga Fußball spielen, anschließend 'steil gehen': 'Ich bin in Kneipen groß geworden', sagt Tönnies. Von Ernährungsplänen hielt er nichts. In die Geschichte der Bundesliga ist er dennoch eingegangen, als er im August 1991 beim 6:2-Sieg des MSV Duisburg gegen den Karlsruher SC drei Tore in fünf Minuten schoss. Nach seiner Karriere ist Tönnies abgestürzt: Kneipe, Scheidung, 80 Zigaretten am Tag, Lungenemphysem. Heute ist er Stadionsprecher beim MSV und hat den Weg zurück ins Leben gefunden, auch dank der MSV-Fans.

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Jan Mohnhaupt

Auf der Kippe

Die zwei Leben des Michael Tönnies

VERLAG DIE WERKSTATT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

Copyright © 2015 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.deAlle Rechte vorbehalten Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt Umschlagfotos: Horstmüller (Cover), Volker Hartmann (Rückseite)

ISBN 978-3-7307-0189-8

Vorwort

Leben und Sterben in Duisburg

Als Jan Mohnhaupt im Sommer 2013 vor dem Trainingszentrum des MSV Duisburg herumlungerte, saßen wir gerade zu dritt auf einem Balkon und versuchten für einen Dokumentarfilm ein Interview mit Werner Lotz zu führen. Werner Lotz war Teil der Duisburger Mannschaft, die in der ersten Bundesligasaison 1963/64 deutscher Vizemeister wurde. Es ist bis heute der größte Erfolg des MSV Duisburg und der Zeitpunkt unseres Interviews konnte daher auch kaum besser gewählt sein. Die Euphorie rund um den MSV hatte in den Wochen zuvor eine derartige Intensität erreicht, dass Außenstehende und Arbeitskollegen sich nur noch kopfschüttelnd wunderten, wenn man mal wieder im Trikot irgendwo auftauchte. Derart ekstatisch und über einen so langen Zeitraum war selbst im fußballverrückten Ruhrgebiet einem Verein nur selten gehuldigt worden. Und der Grund dafür kann nur für jene einleuchtend klingen, die in diesem Sommer mittendrin standen in einem Orkan, der diesen Verein beinahe von der Fußballlandkarte gefegt hätte.

Kurz zusammengefasst und für Unwissende: Etwa vier Wochen vorher hatte der Geschäftsführer Roland Kentsch einen Papierstapel namens »Lizenzunterlagen« Richtung DFL versendet, der – glaubt man Augenzeugen – Form und Format eines Malblocks aufwies, den man einem hyperaktiven Kindergartenkind entrissen hatte, das gerade auf Ritalinentzug war und das die letzten fünf Minuten mit den Buntstiften vollkommen freidrehen durfte, so bunt und wirr schien alles, was dort notiert war. Als man bei der DFL nach Erhalt der Unterlagen einmal ordentlich gelacht hatte, schickte man als Antwort ein Glückwunschtelegramm nach Duisburg zurück und wünschte viel Erfolg für die kommende Saison, die man nun in Obhut des DFB verbringen sollte. Oder übersetzt: Der MSV verließ nach Jahrzehnten unfreiwillig die Bundesliga, Lizenzentzug hieß die Devise, und das mit vollem Kawumms. Der Verein war am Ende. Als wir mit Werner Lotz dort auf dem Balkon saßen, wusste niemand von uns, ob der Verein ein paar Wochen später überhaupt noch existieren würde, beste Voraussetzungen also für längerfristige Pläne. Das Interview führten wir trotzdem, und wenn es nur für die Geschichte sein sollte.

Ungefähr einen Monat lang waren die Fans des MSV bis zu diesem Moment schon auf der Straße. Seit dem Lizenzentzug reihte sich Aktion an Aktion. Sie errichteten eine Mahnwache am Stadion, liefen mit 6.000 Fans vom Bahnhof zur Arena und gaben täglich ein Bekenntnis nach dem anderen zu ihrem Verein ab.

Dass man sich in chaotischen Tagen wie diesen über gar nichts mehr wunderte, leuchtet vielleicht noch ein, aber als Jan Mohnhaupt mir – während wir gerade die Kameras im Auto verstauten – offenbarte, dass er für einen Artikel über den MSV extra aus Berlin angereist war, eigentlich und ursprünglich aus Bochum komme (wofür ich ihm fast schon Beileid bekunden wollte), aufgrund väterlicher Prägung aber MSV-Fan sei (wofür ich ihn wiederum mitfühlend in den Arm schließen wollte), sich dazu als freier Journalist im Mediendschungel der Hauptstadt durchschlage und ungefähr drei Stunden auf dem Trainingsgelände gewartet hätte, um mich um einen Gesprächstermin zu bitten, legte ich den Kopf ein wenig zur Seite und stellte mir die Frage, was der Fußball-Gott mit mir vorhatte.

Aber das hier war anders, und Jan hatte anscheinend genauso dermaßen einen an der Waffel wie wir, sodass ich gar nicht anders konnte, als mich mit ihm auseinanderzusetzen. Was war in seinem Leben schiefgelaufen, dass er sich mit mir ausgerechnet über den MSV Duisburg unterhalten wollte? Ich sagte den anderen beiden Jungs, dass man mich heute nicht nach Hause fahren bräuchte, verabschiedete mich von Werner Lotz und spazierte mit Jan durch Meiderich.

Wenn man mich heute fragt, ob ich es noch einmal tun würde: nein, nie wieder, für kein Geld der Welt! Der Typ ist verrückt, und ich hätte es spätestens einen Tag später merken müssen. Denn 24 Stunden nach unserem ersten Spaziergang trafen wir uns im Innenhafen, dort, wo Duisburg so tut, als hätte Düsseldorf die Stadt nur aus Versehen bei der Eingemeindung vergessen. Wo Ed-Hardy-T-Shirt-Fetischisten im »Bolero« abhängen und bis heute nicht gemerkt haben, dass der vermeintliche Kult um Glitzer und Sternchen nicht ohne Grund schon längst wieder vorbei ist.

Dort nahm er mich zwei Stunden lang vollkommen auseinander, ging ins Detail, bohrte und hakte nach. Und er erzählte von sich, seinem Leben als MSV-Fan in der Ferne und seinem ersten MSV-Spiel, das er im Stadion erlebt hatte: das 6:2 gegen den Karlsruher SC, Saison 91/92, das Spiel, in dem Michael Tönnies Oliver Kahn die vielleicht größte Demütigung seiner damals noch jungen Karriere zufügte: drei Tore in fünf Minuten, der schnellste Hattrick der Bundesligageschichte – bis heute in Duisburg eine Legende.

Dieses Spiel war der Höhepunkt in Tönnies’ unsteter Karriere, von dort ging es eigentlich nur noch bergab. Die Geschichte seines weiteren Lebenswegs passt zu diesem Verein und zu dieser Stadt, die in ihrer jüngsten Vergangenheit mit einem Nackenschlag nach dem anderen zurechtkommen musste. Während Rocker und Mafiosi sich in den letzten Jahren in Duisburgs Gassen regelmäßig über den Haufen schossen und die Loveparade hier derart dilettantisch organisiert wurde, dass 21 junge Menschen für ein bisschen Sektempfang der Stadtoberen ihr Leben lassen mussten, zog es den legendären Duisburger Stürmer nach seiner Karriere in die Kneipe, wo er erst die Finanzen, dann seine Ehe und zuletzt seine Gesundheit derart konsequent ruinierte, dass man ihm fast Absicht unterstellen musste, so akribisch ging er dabei zu Werke.

»Was dann passierte und wie Tönnies den Weg zurück ins Leben fand, ist eigentlich eine Geschichte für ein Buch«, stellte Jan schon bei unserem ersten Gespräch fest, als wir den Niedergang des Michael Tönnies und seine Wiedergeburt rekapitulierten. Hätte ich in diesem Moment nur ein wenig auf das Blitzen in seinen Augen geachtet, hätte ich damals schon die Flucht ergreifen müssen, denn da hatte er das erste Mal Feuer gefangen. Und so etwas hinterlässt in den meisten Fällen deutliche Spuren.

Die Wochen zogen ins Land und der MSV wurde mit einem brutalen Kraftakt gerettet, zumindest war er irgendwann so weit wieder am Leben, dass er in der dritten Liga den Neuanfang wagen konnte. Ganz Duisburg atmete auf, nur für Jan sollte es jetzt erst richtig losgehen. Als er mir einige Zeit später mitteilte, dass er sich entschieden hätte, ein Buch über Michael Tönnies und dessen Rettung zu schreiben, war ich so begeistert wie entsetzt.

Ich hatte ihm im mir eigenen Größenwahn zuvor zugesichert, im Fall der Fälle durchgehend ansprechbar zu sein und ihm jederzeit beiseitezustehen, immer davon ausgehend, dass es sowieso niemals zustande käme. Aber verspekulieren ist in Duisburg Teil des Geschäfts, insofern war Michael Tönnies mir ein guter Lehrmeister gewesen. Was dann folgte, kann man locker im eigenen Lebenslauf unter therapeutischer Betreuung verbuchen, und wer jemals einem Autoren dabei zusehen durfte, wie dieser ein Buch schreibt und welchen Zweifeln er sich dabei aussetzen muss, der weiß, dass spätestens jetzt Schluss mit lustig war. Ständig klingelte das Telefon, am anderen Ende der Leitung eine wahlweise euphorische oder tief deprimierte Stimme, die einem entweder nachts um zwei die neuesten Rechercheergebnisse präsentierte (»Ich habe Oliver Kahn erreicht!«), dann wieder leise vor sich hin schluchzte und phasenweise der Paranoia verfiel (»Tönnies hat es nicht nur der Bild erzählt, sondern auch der NRZ und der Welt!«).

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