1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 »Ich verkaufe das Haus nicht«, sagte er und griff wieder nach dem warmen Brot.
Viertes Kapitel
Im Denkmeer
Der Spaziergang hatte nicht nur seine Rückenschmerzen beseitigt, sondern ihn auch hungrig gemacht. Nur mit trockenem Brot würde er nicht satt werden. Er erhob sich von der Bank und lief pfeifend zurück zum Supermarkt.
Dort füllte er den Einkaufswagen, ohne nachzudenken. Er griff einfach aus jedem Regal etwas heraus. Gleich würde er sich zu Hause eine Mahlzeit zubereiten. Zu Hause, wie gut sich das anfühlte.
»Großeinkauf, was?«, fragte die Kassiererin, während sie Nudeln, Pesto, Joghurts, Tiefkühlpizzen, mehrere Tafeln Nussschokolade, Toastbrot und vieles mehr über den Scanner zog.
»Ja«, sagte er und lächelte. Er konnte es kaum abwarten, alles in den Kühlschrank und die Schränke einzuräumen und fühlte sich wie als Kind, wenn er neue Schachfiguren bekommen hatte.
Mit einem Mal fiel Martin auf, dass er keine Tasche dabei hatte. Er langte nach einer großen Tüte und legte sie auf das Band.
»Du musst Stofftaschen nehmen, Plastik ist nicht gut für die Umwelt, weißt du das nicht?«
Martin drehte sich zu der Kinderstimme um, die hinter ihm erklungen war. Da stand ein Mädchen in grüner Latzhose.
»Entschuldigen Sie, meine Tochter ist manchmal etwas vorlaut.«
»Sie hat ja recht«, sagte Martin zu der Mutter und wandte sich an das Mädchen: »Das nächste Mal benutze ich eine Stofftasche. Versprochen.«
»Da hinten stehen Kartons, nimm doch die«, plapperte das Mädchen weiter, aber die Kassiererin hatte die Tüte schon eingetippt. Zum Glück konnte er mit Karte zahlen, denn an Bargeld hatte er auch nicht gedacht.
»Ich habe Ferien«, sagte das Kind, während die Mutter Waren auf das Band legte. »Und du?«
»Ich auch.«
»Schule ist doof.«
Die Mutter sah auf. »Lilly, nun belästige doch den Herrn nicht.«
»Aber Schule ist doof, Mama.«
Martin packte den letzten Joghurt in die prall gefüllte Tüte, lächelte das Mädchen an und sagte zu ihr, der Mutter und der Kassiererin gleichermaßen: »Wo sie recht hat, hat sie recht.« Dann fuhr er die Tüte im Einkaufswagen nach draußen, nahm sie heraus, stellte den Wagen zurück und sah zur Eingangstür des Supermarktes. Irgendwie hätte er noch gerne mit dem Mädchen geplaudert. Sie war so ansteckend fröhlich gewesen.
Zum Glück war es nicht weit zum Haus, die Einkaufstüte war schwer, er hätte sich besser zwei geben lassen sollen, um das Gewicht auf beide Körperseiten verteilen zu können. An der Straße hielt ein Pkw-Fahrer und ließ ihn den Asphalt überqueren. Einen Zebrastreifen gab es nicht, aber das hier war eine Dreißigerzone, und es herrschte kaum Verkehr. Weil der Fahrer trotzdem gehalten hatte, kam sich Martin vor wie ein sehr alter Mann, für den man anhielt, egal, wie eilig man es hatte. Im Haus legte er die Einkäufe auf die Arbeitsplatte, dann überprüfte er, ob der Kühlschrank lief, er hatte ihn erst angestellt, bevor er aus dem Haus gegangen war. Ja, er kühlte, Martin war erleichtert, denn neu war er nicht mehr. Aber manchmal bedeutete alt eben auch gut in Schuss. Gerade in der heutigen Zeit, in der die Hersteller es seiner Meinung nach darauf anlegten, dass nichts ewig hielt, damit der Konsument gezwungenermaßen konsumierte.
Wenn ich hier tatsächlich einziehen will, muss ich trotzdem einiges um- und ausräumen, dachte er, als er einen Küchenschrank nach dem anderen öffnete. Wie viel Geschirr da überall stand. Er nahm einen Stapel Teller heraus. Das Blumenmuster am Tellerrand fand er hässlich, das Gelb war bleich geworden wie eine Sonne im Nebel. Er räumte einen Schrank frei und stellte Großmutters Geschirr auf die Arbeitsplatte. Als er stattdessen Kekse und Schokolade in den Schrank räumen wollte, überlegte er, dass das eher in die Vorratskammer gehörte. Er aß ein paar der Kekse, dann öffnete er die Schiebetür zur Vorratskammer, machte Licht und freute sich, weil die Regale dort Platz boten und die Konserven, die er zur Hand nahm – saure Gurken, Kapern, Apfelmus – das Haltbarkeitsdatum noch nicht überschritten hatten. Verhungern werde ich nicht. In seiner Stadtwohnung hatte es keine Vorratskammer gegeben, und der Inhalt des Kühlschranks dort hatte die letzten Tage darauf hingewiesen, dass er auf der Durchreise war. Damit war nun Schluss.
Ich verkaufe das Haus nicht. Weil ich selbst einziehe, weil ich hier der Hüter des Hauses bin. Es klang so logisch wie eine mathematische Formel.
Nachdem er die Einkäufe verstaut hatte, ging er den nächsten Punkt an. Dass er eigentlich etwas essen wollte, stellte er in die zweite Reihe. Er brauchte einen Platz zum Schlafen. Zielstrebig ging er nach oben in Großmutters Schlafzimmer. Er starrte das Bett an, das schon eine Weile nicht mehr benutzt worden war. Früher war das hier das Schlafzimmer seiner Eltern gewesen. Oft hatte er bei seiner Mutter schlafen dürfen, weil sein Vater häufig weg gewesen war. Kuschelnächte nannte seine Mutter diese Nächte, in denen sie meist sehr lange wach lagen, weil sie Wörter erfanden und einer immer wieder aufstehen musste, um das Büchlein zu holen. Kuschelnachtworte war eine eigene Rubrik. Denn wenn sie im Dunkeln aneinander gekuschelt lagen, fielen ihnen Worte ein, die ihnen bei Tageslicht niemals eingefallen wären. Kieselregen war ein solches Wort. Es war entstanden, als sie die Regentropfen, die an die Scheibe klatschten, beschreiben wollten. Nach dem Tod der Eltern hatte Großmutter das Bett genutzt, auf Mutters Seite geschlafen und Martin verboten, den Raum zu betreten. Ihr eigenes Schlafzimmer hatte sie links liegen gelassen. Wie oft hatte sich Martin mit Rudi im Arm in seinem Kinderzimmer in den Schlaf geweint. Manchmal ging er heimlich nach drüben und roch an der Bettwäsche, doch der Geruch nach seiner Mutter war mit der Zeit von dem der Großmutter vertrieben worden. Er war auch nicht wiedergekommen.
Martin steckte seine Nase in die Bettwäsche, ein Duft nach Zitrone kitzelte ihn, und er musste niesen. Ein frisch gemachtes Bett, obwohl Großmutter nie wieder zurückkommen würde. Martin schluckte. Ob Großmutters Putzfrau das erledigt hatte? Weil man ihr nicht gesagt hatte, dass sie nicht mehr zurückkehren würde? Nie wieder. Ein Donnerschlag an Worten, weil es der Wahrheit entsprach. Wahrheit war von Natur aus laut.
Martin wandte sich vom Bett ab und öffnete den Kleiderschrank. Sogleich sah er seine Großmutter vor sich. In ihren hübschen Kostümen, wie man die Zweiteiler nannte. Kostüm. Martin verstand es als Synonym. Großmutter hatte sich Eleganz übergezogen, um Erlebtes zu kaschieren. Warum hatte sie nie gemeinsam mit ihm geweint? Er wusste, dass auch sie Tränen vergossen hatte. Immer nachts, wenn sie dachte, er schliefe. Einmal, als sie besonders laut schluchzte, war er zu ihr gegangen und hatte ihr über den Arm gestreichelt. Sie hörte sofort auf zu schluchzen. Er dachte, jetzt würde alles gut. Aber dann sagte sie, sie habe nur schlecht geträumt, und er solle machen, dass er in sein Bett zurückkäme. Noch heute wünschte er, es gäbe eine Medizin, die Erinnerungen auslöschte. Zum Teufel damit. Er verscheuchte den Gedanken aus seinem Kopf. Ein Kleidungsstück nach dem anderen nahm er vom Bügel und warf es auf das Bett. Er fühlte die Traurigkeit eines kleinen Jungen, der im größten Schmerz alleingelassen worden war. Mit ihrer Sprachlosigkeit hatte Großmutter ihn in die Verzweiflung getrieben. Täglich hatte er fühlen müssen, dass sie ihn nicht liebte, und ihm die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Weil seine Mutter auf sein Betteln eingegangen war, trotz Glatteis zum Schachturnier zu fahren. Weil der Vater gesagt hatte, das sei kein Problem, es sei ja nicht weit. Und dann wurde es die weiteste Reise, die Martin je angetreten hatte. Seine Reise in den Abgrund, in die eisige Einsamkeit. In ein Dahinvegetieren abseits jedes realen Seins. Er hatte die Schachfiguren durchs Zimmer geworfen, fortlaufen wollen, wollte Großmutter mit selbst gepflückten Blumen versöhnen. Hatte alles versucht, was ihm als Kind nur eingefallen war. Er fühlte sich verstoßen, wie im Märchen von Hänsel und Gretel.
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