Da seine Gedanken zu nichts führten, suchte er im Internet die Telefonnummer seines Vermieters heraus.
»Guten Tag Herr Korn, hier spricht Herr Wachs, ihr Mieter«, sprach er auf den Anrufbeantworter. »Ich möchte die Wohnung kündigen, bitte rufen Sie mich zurück.«
Was soll ich als Nächstes tun?, fragte er sich. Bücher einpacken? Aber er hatte keine Kartons. Da erinnerte er sich an den Einkauf und das kleine Mädchen, die auf die umweltfreundlicheren Kartons hingewiesen hatte. Er stellte nur Butter und Marmelade in den Kühlschrank, ließ das Geschirr und den angefangenen Kaffee stehen und machte sich auf den Weg. Zu agieren war immer noch besser als zu grübeln. Je schneller er den Umzug und die Beendigung seiner Anstellung als Lehrer hinbekam, desto schneller würde er Ruhe genießen können. Es fühlte sich an, als stünde er auf einem Zehnmeterbrett und hinter ihm schrien alle »Spring! Spring doch endlich!« Dabei war ihm schon das Dreimeterbrett zu hoch. Aber musste das so bleiben?
Direkt vor dem Eingang zum Supermarkt wurde ein Parkplatz frei, und er freute sich darüber, als hätte man ihm ein einzigartiges Geschenk gemacht. So konnte er hoffentlich zügig ein paar Kartons in den Kofferraum laden. Bei der Gelegenheit wollte er noch ein paar Äpfel einkaufen, er aß sie gerne zwischendurch. Gerade überlegte er, ob er die saure oder die milde Sorte nehmen sollte, da sprach ihn eine Frau an.
»Martin? Bist du das?«
Er sah die Frau fragend an, schätzte, dass sie in seinem Alter war.
»Ich bin’s, die Bärbel«, sagte sie, und ihr Tonfall verriet, dass sie ein Wiedererkennen erwartete.
»Die Bärbel, ja …«, sagte Martin und legte vier Äpfel der sauren Sorte in den Korb.
»Du erinnerst dich nicht, oder?«
Martin konzentrierte sich auf die Äpfel.
»Mein Beileid übrigens«, sagte Bärbel. »Gut ist es dir ja nicht ergangen bei ihr.«
Martin betrachtete die Frau genauer. Sie wirkte mächtig, wahrscheinlich, weil sie sehr groß war. Graue, volle Haare umrundeten ihren Kopf wie eine Mütze, an beiden Ohren baumelten riesige rotgraue, runde Ohrringe, den Rest des massigen Körpers verhüllte ein graues Wollkleid, das auf Martin wie ein Kartoffelsack wirkte. Woher zum Teufel sollte er diese Person kennen?
»Stell dir einfach vor, meine Haare wären lang, dunkelbraun statt grau, und ich würde Zöpfe tragen.«
Martin dämmerte es. »Pippi!«, rutschte es ihm raus.
Bärbel grinste. »Genau, die Pippi«, sagte sie und sah ins Leere, als fände sie dort die Vergangenheit.
Bärbel, ein Kind aus dem Dorf, das immer Pippi Langstrumpf hatte sein wollen. Frech war sie gewesen, Martin erinnerte sich. Ein Schreck jeden Lehrers, weil sie alles hinterfragte und ihre Wissbegierde manchmal über den Horizont der Grundschullehrer hinausging. Pfiffig war sie gewesen.
»Schade, dass ich mich sputen muss, ich kümmere mich heute um meinen Enkel. Aber vielleicht können wir an einem anderen Tag ein wenig plaudern. Hast du auch Enkelkinder?«
Nicht mal Kinder.
»Nein.«
»Na, was nicht ist, kann ja noch werden. Auf bald mal. Vielleicht sehen wir uns öfter, hab gehört, du bist zurück. Ich heiße inzwischen Höfer, falls du mich suchst.«
Dorftratsch? Martin verachtete Menschen, die über anderes Leben redeten, weil sie über sich selbst nichts zu sagen wussten und damit eigene Lebenslücken zu füllen versuchten. Er packte noch zwei Äpfel der sauren Sorte in seinen Korb und ging zur Kasse. Die Schlangen dort erinnerten ihn an die bevorstehenden Osterfeiertage. Normalerweise mied er das Einkaufen an solchen Tagen. Vor lauter Kartons hatte er nicht an einen überfüllten Supermarkt gedacht. Gerade stellte er sich an Kasse drei an das Ende der Schlange, da öffnete Kasse vier und er wechselte.
Die Kassiererin lächelte ihn an.
»Haben Sie Kartons für mich?«
Die Kassiererin deutete auf einen Stapel hinter sich. »Bedienen Sie sich.«
Bevor Martin sich bei ihr bedanken konnte, ertönte eine Frauenstimme hinter ihm: »Du ziehst in ihr Haus? Wie schön!« Er erkannte Bärbel, sagte nichts und wandte sich wieder an die Kassiererin: »Danke sehr.«
»Immer gerne.«
Martin schnappte sich ein paar Kartons und verließ mit einem kurzen Gruß an Bärbel den Supermarkt.
Sie rief ihm hinterher: »Dann sehen wir uns jetzt wirklich öfter!«
Vor dem Haus lag eine kostenlose Wochenzeitung auf der Fußmatte. Martin stellte die Kartons beiseite, nahm die Wochenzeitung, schloss die Tür auf und legte sie in der Küche auf den Tisch. Dann holte er die Kartons herein und ließ sie im Flur stehen. Am Küchentisch blätterte er in der Wochenzeitung. Eine Anzeige fiel ihm ins Auge: Flohmarkt für gebrauchte Kleider. Er sah von der Zeitung auf ins Wohnzimmer, in dessen Mitte noch immer Großmutters Kleider auf den beiden fahrbaren Ständern hingen. Dann nahm er sein Smartphone, wählte die angegebene Nummer und machte Nägel mit Köpfen. Nicht einmal eine Standgebühr wurde verlangt. Nur ein Kuchen, da könnte er Frau Wondra fragen.
Am Ostersamstag, dem Flohmarkt-Samstag, um kurz nach sieben Uhr, holte Martin die beiden Kleiderständer aus dem Volvo. Kaum hatte er sie auf dem Gehweg abgestellt, da tippte ihm jemand auf die Schulter, Martin drehte sich um.
»Hier können Sie Ihr Auto nicht stehen lassen«, sagte ein Mann in schwarzer Jogginghose und einem Shirt, auf dem in orangenen Großbuchstaben Orga-Team geschrieben stand. »Das ist die Feuerwehrzufahrt.«
»Ich lade nur schnell ab«, sagte Martin.
»Das sagen alle, und dann haben wir den Salat. Ich gebe Ihnen eine Minute, aber wehe, es werden zwei.«
Wortlos kehrte Martin dem Wichtigtuer den Rücken und sah sich mit den Stangen in beiden Händen um. Es herrschte emsiges Treiben. Tapeziertische wurden auseinandergeklappt, Kisten ausgepackt und Habseligkeiten ausgebreitet, die heute den Besitzer wechseln sollten. Martin sah altes Kochgeschirr, Silberlöffel, Legobausätze, Kisten voller Matchboxautos und einen Tisch nur mit Hüten. Er rief sich die Anzeige ins Gedächtnis: Flohmarkt für gebrauchte Kleider. Ob er mit Großmutters Kleidern in eine andere Ecke musste? Er sprach eine Frau an, die gerade Babystrampler vor sich ausbreitete und sie mit den Händen glattstrich, als wische sie eine vergangene Zeit weg.
»Entschuldigung, können Sie mir sagen, wer die Stände einteilt?«
»Freie Wahl«, sagte die Frau.
Von Wahl konnte jedoch keine Rede mehr sein, stellte er fest, als er sich erneut umsah. Er schüttelte den Kopf. Nur noch am Rand des asphaltierten Turnhallenvorplatzes entdeckte er eine Stelle, die ihm groß genug schien für seine beiden Kleiderständer und den Hocker, den er in Großmutters Keller aufgetan hatte. Schnell verband er die Stangen, so dass er mit ihnen den Platz reservieren konnte und eilte zum Auto zurück, um die Kleider und den Hocker zu holen.
Von einem Mädchen, das unterschiedliche Puppen auf einem Tisch drapierte und so liebevoll über deren Köpfe strich, als wolle sie sie behalten, erfuhr er, dass der Kuchen, den ihm Frau Wondra gebacken hatte, in der Turnhalle abgegeben werden sollte.
»Oh, wie der duftet«, sagte die Frau, die ihn entgegennahm. »Name?«
»Martin Wachs.«
Wenn er das Paule erzählte. Du magst doch keine Menschenansammlungen, würde der sagen und recht hätte er. Als sie sich angefreundet hatten, hatte Paule oft versucht, ihn auf irgendwelche Rockkonzerte mitzunehmen. Aber bald hatte er verstanden, dass Martin in seiner freien Zeit lieber alleine war, oder allenfalls Lesungen besuchte.
Die Frau starrte noch immer auf die Liste.
»Wachs«, sagte er in der Hoffnung, die Frau würde seinen Namen nun endlich finden.
»Das sagten Sie bereits.«
»Wachs schreibt man mit W. Mein Name müsste ganz unten stehen.«
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