1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 »Ja bitte?«
»Hendrik Müller hier.«
»Hendrik!« Warum nur war er ans Telefon gegangen?
»Herr Wachs, endlich erreiche ich Sie. Sie sind ja leider krank geworden – ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser – und ich dachte, ich frag mal nach, was Sie diese drei Schultage noch mit uns durchgesprochen hätten. Sie wissen doch, dass ich ein gutes Abitur brauche.«
»Hendrik!«
»Ja?«
»Sie schaffen das.«
»Aber …«
»Nichts aber. Sie werden das beste Abitur Ihres Jahrgangs machen, und das wissen Sie.«
»Sie verstehen nicht.«
»Sie machen sich umsonst Sorgen. Sie haben doch nur Bestnoten. In allen Fächern.«
»Ich darf mir aber keinen Patzer erlauben. Ohne Stipendium bin ich aufgeschmissen, und ich wollte ja auch nur wissen, was Sie noch durchgenommen hätten, und ob ich vielleicht noch was Bestimmtes nachlesen soll?«
»Nein, nein.«
»Gut, dann gehe ich alles noch mal durch. Darf ich Sie anrufen, wenn ich Fragen habe?«
Nach einem brummigen »Mm« legte Martin den Hörer auf.
Sie verstehen nicht.
Doch, er verstand Hendrik. Natürlich war es ihm in all den Jahren, die er ihn unterrichtet hatte, nicht entgangen, dass ihm gute Noten wichtiger waren als anderen Schülern. Und er ahnte auch den Grund dafür.
Martin räumte den Frühstückstisch ab und fuhr zum Haus seiner Großmutter.
Schon von Weitem sah er Frau Wondra, die in Begleitung eines Herrn auf ihn zukam.
»Das ist Herr Schmidt von der Nachbarschaftshilfe, er geht mit mir einkaufen«, sagte sie, als sie auf Augenhöhe mit Martin war.
»Der Kuchen war lecker«, sagte Martin.
»Es sind meine Zutaten«, antwortete Frau Wondra.
Martin ging wortlos weiter, öffnete die Haustür zu Großmutters Haus, betrat es, schloss die Tür hinter sich und fragte sich, was Frau Wondra gemeint hatte. Meine Zutaten . Die Türglocke unterbrach seine Gedanken. Das musste Herr Richter sein mit den Interessenten. Er öffnete.
»Einen wunderschönen guten Tag«, sagte Herr Richter. Hinter ihm stand eine sechsköpfige Familie: Vater, Mutter und vier Kinder vom Grundschulalter bis Teenager.
»Am besten, wir gehen gleich außen herum in den Garten«, sagte Martin und trat vor die Tür. Er konnte sich nicht vorstellen, so viele wildfremde Menschen gleichzeitig unkontrolliert durch das Haus trampeln zu lassen.
»Schau mal Timmy, wie groß der Garten ist«, sagte der Vater. »Wenn wir die Büsche da wegmachen, ist Platz für dein Tor.«
Die Büsche! Sprach er etwa von den Forsythien oder gar dem wunderschönen Fliederbaum? Martin stellte sich etwas abseits. Herr Richter gesellte sich zu ihm. »Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Wenn ich das Haus für Sie verkaufe, werden wir beide daran verdienen.«
»Sie müssen es doch noch schätzen.«
War dieser Mann kompetent? Martin sah ihn kritisch an.
»Natürlich können wir die offizielle Schätzung durchführen. Ich weiß, normalerweise macht man das vorher. Ich hatte gestern nur den Eindruck, Sie hätten es eilig mit dem Verkauf, weshalb ich dachte, die Interessenten könnten ja schon einmal einen Blick auf das Objekt werfen, aber davon abgesehen …«, Herr Richter legte die Stirn in Falten , »… das Grundstück, die Lage, ich schätze um die 350.000 bis 450.000 Euro.«
Martin dividierte spontan 400.000 Euro durch vierzig verbleibende Lebensjahre. Zehntausend Euro jährlich würden nicht reichen zum Leben. Wie hoch würde die Rente ausfallen, wenn er jetzt seine Laufbahn abbrach? Schon alleine die Miete für seine Maisonettewohnung stieg kontinuierlich.
Die Familie wollte nun das Haus von innen sehen.
»Wie schön ist diese altertümliche Küche. Fast wie im Museum«, sagte die Frau.
»Ich schaue mich mal oben um«, rief eines der Kinder. Ein Mädchen. Martin schätzte sie auf acht Jahre.
Da es keiner sonst tat, ging er ihr hinterher.
»Wo bist du?«, rief er vom Flur aus.
»Hier«, kam es aus seinem ehemaligen Kinderzimmer.
Mit einem mulmigen Gefühl näherte Martin sich der offen stehenden Tür.
»Wenn ich hier wohne, wird das mein Zimmer«, hörte er das Mädchen sagen.
Er umklammerte den Türgriff fest, trat aber nicht ein. Das Mädchen lachte. Es war ein fröhliches Lachen, und obwohl es von einem Kind kam, erinnerte es ihn an das Lachen seiner Mutter. Man lacht nur mit dem Herzen gut.
Martin sah die abendlichen Kissenschlachten vor dem Vorlesen. Vor dem Eintragen besonderer Worte in das Büchlein. Er musste das Haus noch einmal absuchen. Vielleicht fand er die Wort-Schätze doch noch.
»Herr Wachs?«
Das war die Stimme Herrn Richters, die sich gegen all die anderen Stimmen durchsetzte.
»Ich komme.«
»Ich denke, wir können die Besichtigung beenden«, sagte Herr Richter, als Martin gerade die letzte Stufe erreichte.
»Die Leute haben doch noch gar nicht alles gesehen.«
»Nicht nötig. Das Haus ist alt und marode«, sagte der Familienvater.
»Dann wollen Sie es sowieso nicht?«, fragte Martin und spürte eine eigenartige Erleichterung.
»Das Haus würden wir abreißen. Renovieren lohnt sich nicht. Es müsste neu gebaut werden.«
Abreißen? Was bildete der sich denn ein? Noch war es sein Haus, und er konnte bestimmen, was damit geschah.
Endlich waren die lauten Menschen weg. Martin schloss die Tür und atmete tief durch. Dann ging er abermals nach oben, magisch angezogen von dem Zimmer, das er einst bewohnt hatte. Vielleicht konnte es ihm eine Antwort auf die Frage geben, ob und vor allem, an wen er das Haus verkaufen sollte. Aber einen möglichen Abriss? Nein! Das wollte er nicht. Das wäre ein Abschied für immer.
Das Farblose seines ehemaligen Kinderzimmers schwärzte seine bunten Erinnerungen nicht.
Na warte, den nächsten Treffer lande ich.
Denkste, Mama!
Er sah sich um.
Das Zimmer war nicht sehr groß. Zehn, zwölf Quadratmeter vielleicht. Die Raufasertapete war ebenso ergraut und in die Jahre gekommen wie der Teppichboden und sah fleckig und schäbig aus. Der Zweisitzer lud mit seinem unansehnlichen Grau nicht einmal zum Sitzen ein, und der klobige Kleiderschrank hätte vom Sperrmüll stammen können. Trotz des großen Fensters wirkte alles sehr trostlos. Martin starrte die leere Wand an, die früher übersät gewesen war mit Postern. Auf den meisten waren Raumschiffe abgebildet gewesen, aber auch ein paar Tierposter hatten hier gehangen.
Der schlaue Fuchs passt zu dir, du Schachweltmeister.
Danke Mama.
Ja, im Schach war er gut gewesen. Und die Schach-AG hatte ihm darüber hinaus die Flöten-AG erspart.
Nach dem Autounfall hatte er alle Poster heruntergerissen und nichts mehr an die Wand gehängt.
Das ständige Nachdenken an und über die Vergangenheit strengte ihn an, und er schüttelte den Kopf, als sei es so möglich, die Bilder darin zu löschen. Noch einmal blickte er sich im Raum um. Was mochte wohl in dem klobigen Kleiderschrank stecken? Das Büchlein? War es hier? Wo er es am wenigsten vermutete?
Er öffnete die Türen und sah einen so vollen Schrank, dass die Kleiderstange sich leicht bog . Auf den Kleiderbügeln hingen schwere Winterjacken und Mäntel seiner Großmutter, außerdem Strickpullover aus dicker Wolle. Alles sah noch gut aus, soweit er das beurteilen konnte.
Weggeschmissen wird nichts.
Sein Vater war so selten zu Hause gewesen, aber an diesen Satz erinnerte er sich oft in seinem Leben. Vor allem, weil der Vater es erklärte, wie er immer alles erklärt hatte. Denn wenn er Zeit für Martin hatte, dann nahm er sie sich auch. »Damit du die Welt als Ganzes verstehst«, sagte er. Heute konnte Martin das auch nicht: wegwerfen, was noch seinen Zweck erfüllte.
Als er das Zimmer verlassen wollte, sah er in der Ecke etwas am Boden liegen. Er hob es auf, es war ein Kalender der Sorte, die man kurz vor Jahreswechsel überall geschenkt bekam. Dieser hier war von einer Apotheke. Landschaftsaufnahmen umrahmt von Werbung für Arzneien aller Art. Ein Spruch stand darunter:
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