Für Kinder, die den Übergang in die Lautsprache für eine längere Zeit oder dauerhaft nicht bewältigen, sind Methoden der unterstützten Kommunikation eine wichtige Hilfe. Diese Mittel ermöglichen es den Kindern, einen parallelen Entwicklungsweg zu beschreiten, der ebenfalls in zunehmend kompetentere Kommunikation führt.
Im Folgenden legen wir eine Art »Lupe« auf die ersten drei Entwicklungsphasen, da diese für die Zielgruppe der minimal verbalen Kinder zentral sind:
Bevor Kinder die ersten Wörter äußern, lassen sich bereits eine Reihe von Kompetenzen beobachten, die als Vorausläuferfähigkeiten für den produktiven Spracherwerb gelten (Aktas, 2012c; Müller, 2013). Im Modell der erweiterten Repräsentationsveränderungen werden diese zentralen Vorausläuferfähigkeiten den folgenden vier Entwicklungssträngen zugeordnet: (1) sozial-kognitive Entwicklung, (2) produktive kommunikativ-sprachliche Entwicklung, (3) Entwicklung eines ersten Sprachverständnisses und (4) frühe Lautbildung. Für jeden dieser Entwicklungsstränge gilt es herauszufinden, an welcher Stelle im Entwicklungsverlauf das Kind gerade steht.
Sozial-kognitive Entwicklung
Kinder bauen ihre kommunikativ-sprachlichen Fähigkeiten nicht isoliert, sondern im Rahmen von Interaktionen mit ihren Bezugspersonen auf. Auf diesen sozialen Austausch sind sie von Geburt an ausgerichtet, denn der menschliche Säugling bringt eine ausgeprägte soziale Orientierung mit. Diese ermöglicht es den Kindern, sozialen und damit auch sprachlichen Stimuli besondere Aufmerksamkeit zu schenken (Valenza, Simion, Cassia & Umiltà, 1996; Vouloumanos & Werker, 2007) und aus dem sozialen Austausch zu lernen.
Auf der Grundlage der Erfahrungen, die die Kinder in der Interaktion mit ihrer sozialen Umwelt machen, entwickeln sie basale sozial-kognitive Fähigkeiten, die sie benötigen, um zu aktiven Kommunikationspartnern zu werden. Während die Eltern-Kind-Interaktionen zunächst primär darauf ausgerichtet sind, den Säugling zu versorgen und zu beruhigen, nehmen sie bald einen spielerischen Charakter an. Die Eltern versuchen, gemeinsame Freude mit ihrem Kind zu erleben und Interaktionsroutinen aufzubauen. Dies ermöglicht den Kindern, erste soziale Erwartungen über das Verhalten ihrer Bezugspersonen aufzubauen und die Effekte ihrer eigenen Handlungen auf ihr Gegenüber zu erkennen (Rochat & Striano, 1999).
Im Verlauf der nächsten Lebensmonate entwickeln sich zwischen Säuglingen und ihren Bezugspersonen zunehmend wechselseitig aufeinander bezogene Interaktionen, sog. dyadische Interaktionen. Die Kinder werden immer kompetenter darin, an das Verhalten des Interaktionspartners anzuknüpfen und sich in ihren Handlungen (Bewegungen, Vokalisationen o. ä.) mit ihm abzuwechseln (Tomasello, Carpenter, Call, Behne & Moll, 2005). Es findet ein zeitlich kontingentes Handeln beider Interaktionspartner statt (sog. turn-taking), und es lässt sich ein intensiver Austausch von Gefühlen beobachten (Tomasello et al., 2005). Vermutlich spielt die Fähigkeit zur Imitation eine ganz zentrale Rolle beim Aufbau von dyadischen Interaktionen (Nagy, 2006).
Gegen Ende des ersten Lebensjahres (mit ca. 9 bis 12 Monaten) erreicht das Interaktionsverhalten typisch entwickelter Kinder eine neue Qualität (Tomasello et al., 2005; Rochat & Striano, 1999). Die Kinder und ihre Bezugspersonen richten ihre Aufmerksamkeit und ihre Handlungen nun gemeinsam auf einen Gegenstand und bauen sog. triadische Interaktionen (Kind – Interaktionspartner – Objekt) auf: Die Kinder lernen, mit ihren Bezugspersonen gemeinsam mit einem Objekt zu spielen (Aufbauen eines Turmes, Hin- und Her-Rollen eines Balls o. ä.) und ahmen Handlungen mit Objekten nach, die sie bei ihren Bezugspersonen beobachten (Meltzoff, 1988). Die Kinder erleben dabei die zentrale Bedeutung gemeinsamer Aufmerksamkeitsbezüge und lernen, ihren Aufmerksamkeitsfokus mit dem des Interaktionspartners zu koordinieren (gemeinsame Aufmerksamkeit oder »joint attention«).
Die Kinder haben damit basale sozial-kognitive Fähigkeiten aufgebaut, die sie benötigen, um mit ihren Bezugspersonen kommunizieren zu können. Selbstverständlich erweitern sie diese Fähigkeiten noch im Verlauf der weiteren Entwicklung.
Produktive kommunikativ-sprachliche Entwicklung
Kinder reagieren schon früh auf die Interaktionsangebote ihrer Bezugspersonen, z. B. über Blicke, Körperbewegungen oder Laute. Es handelt sich dabei aber noch nicht um absichtsvoll eingesetzte Signale, das Verhalten ist daher noch präintentional. Im Rahmen dyadischer und triadischer Interaktionen lernen die Kinder allmählich, die Aufmerksamkeitsausrichtung und das Verhalten ihrer Interaktionspartner mit einfachen Kommunikationsmitteln gezielt zu beeinflussen. Anfangs lässt sich nicht immer eindeutig abgrenzen, ob ein kommunikatives Verhalten (z. B. Blickkontakt oder ein Laut) lediglich von den Bezugspersonen als solches interpretiert wird oder ob es bereits vom Kind absichtsvoll eingesetzt wird. Gegen Ende des ersten Lebensjahres sind die meisten typisch entwickelten Kinder aber recht eindeutig in der Lage, viele ihrer Wünsche und Bedürfnisse absichtsvoll mitzuteilen (Bruinsma, Koegel & Koegel, 2004). Sie haben damit eine entscheidende Entwicklungsaufgabe bewältigt: die Fähigkeit zur intentionalen Kommunikation (Liszkowski, 2011).
Die Kinder nutzen hierfür zunächst einfache vorsymbolische Kommunikationsmittel, wie das Anlächeln, den Blickkontakt und ritualisierte Gesten (z. B. Entgegenstrecken der Arme, um hochgehoben zu werden). Mit etwa 10 Monaten beginnen Kinder dann sog. deiktische Gesten einzusetzen: Sie zeigen Objekte vor (showing), reichen Objekte (giving) und verwenden kurz darauf die Zeigegeste (pointing).
Die intentionale Kommunikation mit non-verbalen Mitteln scheint Kindern den Weg in den Spracherwerb zu ebnen (vgl. Iverson & Goldin-Meadow, 2005). Vermutlich spielt die Entwicklung deiktischer Gesten hierbei eine ganz zentrale Rolle (z. B. Liszkowski, 2010, 2011).
Im weiteren Verlauf differenzieren die Kinder ihre non-verbalen Kommunikationsfähigkeiten weiter aus (Capone & McGregor 2004; Liszkowski 2010; Bruinsma et al. 2004): Sie nutzen ihre non-verbalen Mittel (insbesondere die deiktischen Gesten) immer häufiger und flexibler und setzen sie zunehmend koordiniert ein (z. B. Zeigegeste + Blickkontakt + Laut). Ferner wird das Spektrum der Fähigkeiten um symbolische Kommunikationsmittel wie repräsentationale Gesten oder Wörter erweitert (Heller & Rohlfing, 2017). Damit wird die Phase 2 des impliziten Symbolwissens erreicht. Auch Lautmalereien (z. B. »uuh« für »Hupe«) oder Protowörter (z. B. »lala« für Schokolade) stellen symbolische Mittel dar, wenn sie vom Kind zuverlässig für eine bestimmte Bedeutung genutzt werden.
Anders als ritualisierte oder deiktische Gesten stellen repräsentationale Gesten Referenten für eine ganz bestimmte Bedeutung dar (z. B. Flatterbewegung für »Vogel« oder Kopfschütteln für Ablehnung). Ihr semantischer Gehalt bleibt in unterschiedlichen Situationen derselbe, so dass sie unabhängig vom unmittelbaren Kontext zu verstehen sind. Die ersten repräsentationalen Gesten tauchen bei typisch entwickelten Kindern etwa zeitgleich mit der Produktion der ersten Wörter auf, also zu Beginn des 2. Lebensjahres (vgl. Doil, 2002). Es erfolgt in der typischen Entwicklung somit ein schneller Übergang in die Phase des impliziten Sprachwissens (Phase 3).
Entwicklung eines ersten Sprachverständnisses
Säuglinge bringen von Geburt an eine Reihe von Sprachverarbeitungsfähigkeiten mit, so z. B. eine besondere Sensibilität für Prosodie und Sprachrhythmus und die Fähigkeit, lautliche Kontraste zu differenzieren. Ab dem Alter von acht bis neun Monaten sind sie in der Lage, einzelne Wörter im Lautstrom, der sie in der Interaktion mit ihren Bezugspersonen umgibt, zu segmentieren. Parallel dazu beginnt das Kind, Zusammenhänge zwischen den identifizierten Lautmustern und deren Bedeutungen zu entdecken. Mit etwa neun Monaten gelingt es den Kindern, auf erste Signalwörter wie »nein-nein« und auf häufig wiederkehrende Sätze wie »Schau’ mal, da kommt Mama!« zu reagieren. Dieses frühe Sprachverständnis ist noch eng mit wiederkehrenden Situationen, in denen die Wörter in der Regel vorkommen, verknüpft. Den Kindern gelingt es im weiteren Verlauf immer besser, Referenzen zwischen Objekten, Ereignissen, Eigenschaften etc. und den entsprechenden lautlichen Symbolen (»mapping«) herzustellen (Kauschke, 2015). Dies gelingt besonders gut in Phasen gemeinsamer Aufmerksamkeit. Die Bezugspersonen unterstützen den Erwerbsprozess dabei, indem sie eine kindgerichtete Sprache verwenden und multimodale sowie redundante Hinweisreize geben, worauf sich eine Äußerung bezieht (Rohlfing, 2013).
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