»Das weiß ich nicht«, sagte Larsen. »Ich tu es einfach.«
»Was tust du?«
»Ich halte dich fest.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest, lass mich in Ruhe.«
»Dann beantworte mir diese eine Frage, verdammt noch mal«, sagte Larsen. »Halt ich dich fest oder tu ich das nicht?«
Der Mann warf den Kopf hin und her. Larsen wartete.
»Ja«, kam es resigniert. »Du hältst mich fest.«
»Genau«, sagte Larsen. »Und jetzt lasse ich dich los.«
Er richtete sich auf, steckte die Glaskugel in die Tasche und stellte sich ans Fenster, schaute hinaus auf den Bagger und den Schäferhund, der mit nach vorn gekippten Ohren daneben saß und die gewaltigen vor Mauerschutt und Bretterstücken nur so strotzenden Eisenklauen anstarrte. Ich kann sein, wer ich will, dachte Hans Larsen. Ich kann absolut jeder sein. Aber hierher hätte ich niemals kommen dürfen.
Marianne sah durch das Spiegelglasfenster einen Hund, danach eine gekrümmte, heruntergekommene Gestalt, die stehen blieb und zögernd nach der Tür griff, wie in der Hoffnung, sie sei verschlossen. Dann schob er die Tür auf, kam mit einem Rücksack und zwei zerfetzten Plastiktüten herein und blieb wortlos stehen.
»Was ist los?«, rief Marianne und registrierte die verbundene Hand und die Wunde unter dem Auge. Der Mann schüttelte ungeduldig die Tüten, und ihr ging auf, dass es einer der Obdachlosen aus den Hütten im Wald oberhalb des Neubaugebietes sein musste, der ungefähr einmal pro Monat mit seinen Lumpen kam, da Ragnhild sie aus purer Wohltätigkeit gratis wusch.
Er sah mit teilnahmslosem Blick zu, während sie mit einem Besenstiel in den stinkenden Fetzen wühlte, Kieselsteine, leere Flaschen, Holzstücke herausholte. Sie fand auch einen Fünfziger, steckte ihn in seine Brusttasche und stopfte die Kleider in die älteste Maschine.
»Möchten Sie warten?«, fragte sie und entdeckte in diesem Moment einen Schlafsacküberzug, der zwischen die Trockner gefallen war.
Er sagte Ja.
»Dann setzen Sie sich dahin«, sagte sie und zeigte auf den Stuhl neben der Tür.
Trond Pedersen stand mit blauem Filzstift auf einem blassen, verwaschenen Namensschildchen, mehrmals übereinander geschrieben, dazu eine Adresse, aber keine Telefonnummer.
»Wohnen Sie in der Hütte oben am Hang?«, fragte sie im Plauderton den Alten, der sich jetzt gesetzt und zu einer Illustrierten gegriffen hatte.
»Ja.«
»Dann gehen Sie an Nummer 8 vorbei, könnten Sie das hier für mich abgeben?«
Sie reichte ihm den Überzug, bereute das aber, als die groben Hände sich um den ffischgewaschenen Stoff schlossen, Trond Pedersens Schlafsacküberzug in den Klauen dieses Monstrums, das nun da saß und ihn befühlte, als sei er hier zum Opfer eines günstigen Angebotes geworden.
»Das gehört mir nicht.«
»Ich weiß, dass Ihnen das nicht gehört. Aber könnten Sie es für mich abgeben?«
Er sah sich den Überzug noch genauer an.
»Das gehört mir nicht.«
Er öffnete die Illustrierte und konzentrierte sich auf eine Königsfamilie, während Marianne sich in die Lippe biss und ins Hinterzimmer ging und den Überzug ins Licht hielt, um nach Spuren zu suchen, sie schnupperte daran und steckte ihn zusammen mit Schminke und Notizbuch in die Tasche – hier gab es weder plus noch minus. Sie zog ihn wieder hervor und legte ihn hinten auf den Stuhl, wo sie ihn vielleicht vergessen könnte.
Sie faltete Wäsche zusammen und stapelte sie aufeinander, schrieb drei Rechnungen, addierte die Einnahmen des Tages und trank einen Schluck kalten Kaffee, ehe sie wieder hinausging und die Uhr an der Maschine überprüfte, die sich mit den Lumpen des Obdachlosen abmühte.
»Ist das Ihr Hund?«, fragte sie und nickte aus dem Fenster zu dem Schäferhund hinüber, der dort saß und sie anstarrte.
»Nein.«
»Ich hatte auch mal so einen Hund.«
»Er ist mir gefolgt.«
»Ich hatte auch einmal ein Pferd.«
»Mm.«
»Trinken Sie Brennspiritus?«
»Ja.«
»Da wird irgendein Dreckszeug beigefügt, wissen Sie das, davon können Sie sterben?«
Er schien ihr zuzustimmen. Die Wunde unter dem Auge sah aus wie ein Schmuckstück oder ein natürliches Organ. Aber noch etwas anderes machte Marianne nervös und könnte auch diesen hier in einen schlechten Tag verwandeln – wie er ihrem Blick auswich? Sie beugte die Finger hin und her und die Gelenke knackten.
»Tun Sie das nicht«, sagte er und schaute weiter in seine Zeitschrift.
»Was denn?«
»Das klingt scheußlich.«
Sie sah ihre Hände an und atmete auf, damit hatte sie aufgehört, wie sie mit Nägelkauen aufgehört hatte. Sie setzte sich neben ihn und zog eine Packung Zigaretten hervor, bot ihm eine an und öffnete die Tür. Sie hatte auch mit Rauchen aufgehört, hatte aber wieder angefangen, weil es zu nichts führte, und Trond Pedersen, das war ja nun ein überaus häufiger Name, sogar hier.
»Hänseln die Kinder Sie?«, fragte sie und dachte, es sei gut, dass sie ihn gesehen hatte, es gab doch Gerüchte, eine Bande von Trinkern oben im Wald und eine ganze Wohnsiedlung voller Kinder.
»Nein«, sagte er.
»Wie heißen Sie?«
»Ich werde der Magnat genannt.«
»Ganz schön großartiger Name.«
»Ich bin neu hier.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Wollt ich nur gesagt haben.«
»Die haben doch mal eure Hütte abgefackelt?«
»Davon habe ich gehört.«
»Aber Sie wollen trotzdem da wohnen?«
»Ja, es ist scheußlich.«
Sie schnippte Asche in eine Seifenschale und hielt sie ihm hin, seine Finger zitterten.
Marianne erhob sich und klopfte auf die Maschine, um die letzten Seifenreste zu lösen, zog sich ins Hinterzimmer zurück und spülte sich den Mund aus, ging wieder hinaus und erzählte, wie lange sie schon dort wohnte, zusammen mit ihrer Tochter, die sie bald aus dem Kindergarten holen müsste. Sie erzählte von den beiden Freundinnen, Greta und Nina, die sich unbedingt gleich anziehen und Zwillinge sein wollten, während sie noch immer nicht begriff, was sie hier machte, als sei sie der defensive Teil in einem Verhör ohne Fragen.
»Wie kommen Sie nach Hause?«, fragte sie.
»Ich gehe.«
»Ich kann Sie mitnehmen, dann können Sie für mich etwas abgeben?«
Er gab keine Antwort.
Marianne erinnert sich daran, wie Trond Pedersen ihr zum ersten Mal aufgefallen war – er kam ihr in viel zu hohem Tempo auf dem Motorrad entgegen: schwarzer Lederanzug, Handschuhe, hohe mit Nieten besetzte Stiefel und das Gesicht versteckt hinter einem Visier, das in einen japanischen Krieg gehört hätte. Sie heulte, er riss den Helm ab und zeigte sein jungenhaftes Grinsen – zum ersten Mal.
Und das zweite Mal: Sie hatte die Brieftasche in der Wäscherei vergessen und stand wie eine Schwarzfahrerin an der Sperre der U-Bahn-Station, die Schamröte auf ihren Wangen, als er sie von der anderen Seite der Halle her erblickte, er kam mit diesem Grinsen auf sie zu, ließ einige Münzen in den Automaten fallen und sagte:
»Willkommen.«
Zwei Begegnungen, die nichts bedeuteten, weder für sich noch zusammen, aber die wieder in ihren Gedanken auftauchten, und sie setzte sich in den Kopf, dass auch das etwas mit dem Alten zu tun habe, wollte ihn sogar fragen, wurde aber durch das Klingeln der Waschmaschine daran gehindert. Der Magnat erhob sich majestätisch.
»Die müssen noch getrocknet werden«, sagte sie und stopfte die Lumpen in einen Trockner und machte sich ans Aufräumen. Die klägliche Garderobe war ungefähr fertig, als Ragnhild zur Tür hereinkam, Ragnhild mit den schwarzgesprayten Haaren und dem konstanten Lächeln auf den viel zu roten Lippen. Marianne umarmte sie rasch, riss sich den Kittel herunter, packte den Sack und die Tüten des Magnaten, ging hinaus und stopfte alles in den Kofferraum des Volvo.
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