Larsen trank langsam und gewöhnte sich daran, wieder hier zu sein. »Lange Tage?«, fragte Salonen.
»So war das.«
»So ist es wohl.«
»So ist es.«
Regen auf dem Blechdach, so weit oben in der Leere, dass das Lager noch größer wurde. Larsen fühlte sich unwohl, durch die ganze Atmosphäre aus Holz und Pappkästen auf kurzer Durchreise durch einen engen Verschlag mit zwei bewegungslosen Männern, jeder mit einer Tasse Kaffee und einer einzigen Zigarette.
Für einen Moment dachte er, es sei so still, dass niemand ihn sehe, nicht einmal der alte Finne, der ihm ins Gesicht starrte, mit dem vertrauten Blick voller Tannenwald und vergessener Kriege. Hans Larsen wusste nicht, warum er das dachte, er war nur ganz sicher, das schon früher gedacht zu haben, über dieses Lager und die beiden, die sich dort befanden.
»Der Laden läuft gut«, sagte Salonen. »Ja, ungefähr wie damals. Um fünf gehen wir nach Hause. Und auf die Jugend ist kein Verlass mehr, das ist der einzige Unterschied.«
Er füllte die Nasenlöcher mit noch mehr Rauch. »War es übrigens nie.«
Larsen nickte.
Er wusste, wenn er das Büro verließe und fünfzig Meter weiter zwischen Palettenreihen vier und fünf ginge, würde er eine grüne Tür finden, und dahinter einen Verschlag mit sieben Gabelstaplern und vier Sackkarren. Er würde Eisenbänder und Schlösser und Zangen und Feilen finden, um Kästen und Paletten zusammenzuhalten. Drei Hämmer, jeder mit einem abgenutzten Holzgriff, blanke Nägel mit kleinen Rostflecken in bleichen, aufgerissenen Kartons, alles, was in Salonens regelmäßigen Arbeitstagen benutzt wurde, das ordentlich wieder hingelegt wurde, wie das Inventar eines Uhrwerks, wenn es fünf schlug, genau fünf. Falls keine Überstunden gemacht wurden, was ja vorkam. Aber das Werkzeug machte um fünf dennoch eine Pause, kehrte zurück an den Ausgangspunkt im grünen Verschlag, um sich zu sammeln, ehe die nächste Schicht es wieder herausriss. Hinter dem Vorhang unter dem Sicherungskasten stand eine Obstkiste mit den Resten des hauseigenen Alkoholkonsums, Leergut, das in einen Sack gesteckt und in den Alkoholladen gebracht oder ganz einfach in den Hafen geworfen wurde. Salonen kümmerte sich nicht darum, was in den Überstunden vor sich ging, in der Dunkelheit, er habe davon gehört, sagte er, wenn jemand auf die Idee kam, dieses Thema zur Sprache zu bringen, aber so lange die Fracht zum Kai und unter Dach kam, so lange Maschinenteile, Schweizer Schokolade und Wurstgewürze geliefert wurden und Papier und Stempel erhielten und Gabelstapler und Sackkarren um fünf ihre wohlverdiente Ruhe bekamen, konnten die Leute machen, was sie wollten, und das machten sie.
»Lebt Kalle noch?«, fragte Larsen.
»Nein«, sagte der Finne.
»Frank?«
»Ja, der ist hier. Der zählt.«
Larsen sah, dass der Finne jetzt eine Art Lächeln auf den Lippen hatte.
»Kann Frank zählen?«, fragte er.
»Er kann jedenfalls nicht heben. Eine Schachtel, zum Beispiel.«
Salonen zeigte mit zwei stumpfen Fingern, wie klein ungefähr die Schachtel sein müsste, damit Frank sie hochheben könnte.
»Und du hast Vertrauen zu ihm?«
»Ja, davon gehe ich aus.«
»Du zählst nie nach?«
»Das hab ich immer gemacht.«
Larsen merkte, dass auch er sich an einem Lächeln versuchte. Es fiel ihm schwer.
Der Finne hielt ihm die Tasse hin. Der Frischeingestellte füllte sie. Es roch nach Tabak, Maschinenöl und Lösungsmitteln, der süßliche Geruch von Margarine auf imprägnierten Brotbrettchen und Tischkanten, die niemals gewaschen wurden, nur abgewischt, mit einem Lappen, der unter dem Hahn über dem Waschbecken ausgewrungen wurde, dem Kaltwasserhahn. Sogar die Tasse, die Larsen in den Händen hielt, war dieselbe, vielleicht nicht dieselbe, aber sie hätte es sein können, daran konnte es keinen Zweifel geben.
»Ich zeig dir das Loch«, sagte der Finne und erhob sich.
Packte das Schlüsselbund aus dem Eckschrank und gab Larsen ein Zeichen, das Brecheisen mitzunehmen, das notwendig war, um die ramponierten Tore zu öffnen. Sie schoben jeder eine Wand auf rostigen Rollen zur Seite und Larsen merkte, dass es seinen Beinen wieder besser ging, als sich der Nebel, zusammen mit den Resten des Stadtlärms, der durch Wellenschwappen und Möwengeschrei auf der anderen Hafenseite gefiltert wurde, in die Halle wälzte. Ein Auto kam gefahren und verschwand hinter dem Lager. Sie hörten kreischende Bremsen und eine schlagende Tür.
»Die Jungs«, sagte der Finne und watschelte weiter.
Es war kalt. Larsen schob die Hände in die Tasche. »Du hast zugenommen«, sagte er zu dem Rücken vor sich.
»Kann sein«, sagte der Finne. »Es ist wohl acht Jahre her?«
»Es sind etwas mehr als zehn.«
»Ja, du kannst dir das wohl merken.«
Salonen drehte sich um und musterte ihn. »Das ist früh?«, fiel ihm dann ein.
»Ja. Zwei Jahre.«
»Deine Tochter weiß, dass du raus bist?«
»Ja.«
»Aber du hast über Karen gehört?«
»Das hab ich gestern erfahren.«
Der Finne sah ihn an.
»Du hast erst gestern erfahren, dass deine Frau vor ... neun Jahren gestorben ist?«
Larsen nickte.
Der Finne schloss die Augen, öffnete sie wieder und zeigte auf ein Loch und zwei verfaulte Bretter und tiefer darunter die bleifarbene Wasseroberfläche mit den schwimmenden Holzstücken, zerbrochenen Paletten, leeren Flaschen, Papier- und Stofffetzen. Sie lauschten einem feuchten, gurgelnden Echo zwischen muschelbewachsenen Kreosotstämmen und mit Algen überwucherten Felsbrocken, und Larsen dachte an Schwimmbäder mit zu kaltem Wasser.
»Du brauchst wohl auch eine Wohnung?«, fragte Salonen.
»Ja«, sagte Larsen.
»Du haust also nicht wieder ab?«
»Vermutlich nicht.«
»Ich habe gern zuverlässige Leute«, sagte der Finne. »Und du kommst und gehst, wie du willst.«
»So ist es«, sagte Larsen und hätte wohl auch eine vage Handbewegung gemacht, wenn er die Hände nicht in der Tasche gehabt hätte.
»Und wie willst du das Geld haben?«
»Auf die Hand.«
»Kein Konto und Steuern und der ganze Kram?«
»Nein. Und am liebsten jeden Abend.«
»Wir sagen jede Woche«, sagte der Finne. »Donnerstag um fünf.«
Er schob mit dem Fuß Späne in das Loch, zog ein Messer hervor, ging mit einem Stöhnen in die Knie und bohrte das Messer in das faulige Holz. »Die kannst du auch auswechseln. Alle fünf, bis zu der Übergangsstelle da.«
»Ja«, sagte Larsen.
Noch ein Wagen kam durch das Tor und verschwand hinter dem Lagerhaus.
»Die Ärsche lernen die Uhr einfach nicht«, sagte Salonen und erhob sich mit demselben Stöhnen, wie um es sich wieder in den Leib zu stopfen.
Larsen dachte an die Steuermannsschule und die Jahre auf See, Gewerkschaftsarbeit, Zoff, schwarze Listen. Er dachte an die Baubranche an Land und danach den Hafen und Salonen, weil er doch nicht ohne die Schiffe sein konnte, jedenfalls nicht, ohne sie zu sehen.
»Ich bin nicht der ganz große Seemann geworden«, sagte er.
»Nein, du bist eingefahren«, sagte der Finne. Und Larsen lachte, als sei ihm eine gute Erinnerung gekommen, die ihn nicht loslassen wollte, sondern zu einer weiteren führte, die ebenfalls gut war. Aber dann fiel ihm das Gesicht seines Vaters ein – ein Mann, der mit dem Vorschlaghammer auf dem Spantenboden von Akers Mek stand und stocktaub war, der zu Abend aß und schlief und sich nur aus dem Schlaf riss, wenn Larsen junior zusammengestaucht werden musste.
Larsen war einer von denen, die fast ohne Vorwarnung erwachsen geworden waren, er war zur See gefahren und hatte einige Jahre auf Linienfahrt verbracht. Aber das Gefühl, eingesperrt zu sein, wurde auf dem weiten Meer nicht anders, und auch nicht das Gefühl, dass ihm etwas Wesentliches fehlte, sowie der wachsende Verdacht, dass er es niemals finden würde.
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