Roy Jacobsen
Roman
Aus dem Norwegischen von
Gabriele Haefs und
Andreas Brunstermann
Saga
Die Farbe der Reue
Aus dem Norwegian von Gabriele Haefs und Andread Brunstermann
Originaltitel: Anger © 2012 Roy Jacobsen
Alle Rechte der deutschen Ausgabe © Osburg Verlag Hamburg 2009 www.osburg-verlag.de. Alle Rechte der Ebookausgabe:© 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711449004
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com
Der Fahrstuhl trug ihn hinab in seinen ersten Tag. Es war neun Uhr morgens, und die Sonne schien auf das Gitter. Sie reichten ihm eine graue Tüte mit Kleidern, von denen er vor zehn Jahren nichts hatte wissen wollen und von denen er auch jetzt nichts wissen wollte.
»Könnt ihr wegwerfen«, sagte er und betrachtete aus zusammengekniffenen Augen die Formblätter, die sie ihm über den Tresen hinschoben.
»Kannst du selbst«, sagten sie.
Er ließ die Tüte ungeöffnet in den Papierkorb fallen.
»Du musst deinen Zorn jetzt zügeln, Larsen.«
»Der ist tot«, sagte Larsen.
»Das ist früh, oder?«
»Zwei Jahre.«
Seine Hand führte die Schreibarbeit aus, die die Freiheit verlangte, man hätte fast glauben können, er habe eine Zukunft; er richtete sich gerade auf und starrte in den Spiegel an der Wand hinter den Uniformen: falscher Anzug, der so saß, wie er sitzen sollte, die Reste seiner Haarpracht über der hinteren Kopfhälfte, um die Narbe zu verbergen. Er hatte vier Wochen lang mit dem Gesicht zum Gitterfenster auf einem Hocker gestanden, um nicht wie ein lebender Leichnam zu wirken. Sein Gehör war nicht so, wie es sein sollte. Er rechnete also nicht damit, Probleme mit Geräuschen zu bekommen. An den Sichteindrücken würde er nichts ändern können, an Farben, Bewegungen, Tempo, er würde es mit den neuen Selbstverständlichkeiten aufnehmen müssen, die Freiheit würde ihm Möglichkeiten geben; er würde teilnehmen und arbeiten, einkaufen, eine Zeitung lesen. Das war sein Plan. Eine Serie von Tagen zu füllen, die den Rest eines gekenterten Lebens ausmachen würden. Er hatte vor, das unbemerkt hinter sich zu bringen, den Käfig mit sich zu tragen.
Larsen nahm Abschied von dem Mann im Spiegel, ließ die Papiere denselben Weg nehmen wie die Kleider – und dann brauchte er nur einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich unter einen Himmel hinauszuschleichen, der über ihn hereinbrach wie eine kalte Dusche. Er fröstelte. Es war immer dasselbe. Er bog um eine Ecke und ging durch eine Straße, nackt wie ein Kind, seine Beine waren unsicher, es wimmelte und brauste und sein Mund lachte, der Verkehr dröhnte und ein Bus schnaufte wie ein Wal, Kinderlachen, raschelnde Stimmen und knirschende Schritte. Er war zweiundsiebzig Jahre alt bei diesem Spießrutenlauf in sein weiteres Leben. Über viel zu viele von diesen Jahren war er nicht Herr gewesen: Er hatte wegen Raubüberfalls gesessen, wegen Körperverletzung, wegen Schmuggels und wegen Betrugs, es gab so ungefähr kein Vergehen, für das Larsen noch nicht gesessen hätte.
Aber er nahm es hin, immer gibt es etwas, dessen man sich schämen kann, immer gibt es etwas zu bereuen. Larsen hatte nichts anderes getan, vor tausend Jahren hätte er ein gefeierter Krieger oder eine Stütze der Gesellschaft sein können. Jetzt war er vollauf damit beschäftigt, eine Naturkatastrophe zu sein – auf der Flucht in ein billiges Hotel.
Er starrte atemlos die Rezeptionistin an, während seine Hand »Hamburg« in die Rubrik für die vergangene Nacht und »Seemann« in die Spalte für den Beruf schrieb, das erklärte immerhin den Seesack, der wie ein Buckel über seinen Rücken hing, möglicherweise auch die verlaufenden Tätowierungen am linken Handgelenk. »Adresse ›keine‹«, sagte er und lachte ohne Sinn und Verstand.
Die Frau hinter der Rezeption war Ende zwanzig, sie lächelte mit scharfen weißen Zähnen hinter breiten Lippen und duftete nach überaus schmutzigen Fantasien, ihre Haare waren üppig und wellig, und sie trug eine Uniform, die zu einer anderen Zeit Hans Larsen aus der Fassung hätte bringen können. Jetzt musterte er sie mit gleichgültiger Erleichterung.
»412.«
Auch das Zimmer war so, wie es sein sollte. Tot, anonym, farblos, mit Hafenblick. Er schloss hinter sich ab, ließ den Seesack zu Boden fallen und sank auf das Bett. Sein großer Kopf ruhte.
Über dem Waschbecken in der kleinen Nische hing ein Spiegel. Hans Larsen konnte sich selbst in schräger Perspektive sehen, mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem fremden Bett. Er stand auf und zog die Vorhänge zu. Er legte sich wieder hin. Er setzte sich. Auf dem Nachttisch lag ein Schlüssel, der zur Minibar unter dem Fenster passte. Er öffnete sie und nahm ein Mineralwasser heraus, zog die Vorhänge auf und stand am Fenster und sah ruhelose Wolken über den Himmel treiben. Auf der anderen Seite des Hafens regnete es, die Wasseroberfläche sah aus wie zerstoßenes Glas, ein englisches Passagierschiff mit Horden von Regenschirmen auf dem oberen Deck, eine russische Rostlaube und ein schräggestelltes Segel hinter dem Lagerhaus, in dem Larsen seinerzeit seinen ersten Job gehabt hatte, als Laufbursche. Die alten Kähne, schwer und langsam, und sein Kopf dachte an die Tochter, damals, als sie ihm nur bis zu den Achselhöhlen gereicht hatte. Zuerst achtete man auf die Augen, grün und ausweichend, dann auf die Haare, lang und schwarz und verworren, mit allerlei funkelnden Spangen und Klämmerchen. Die langen dünnen Finger, über die sie gern Ringe streifte, eine Ziernärrin und eine Puppe. Larsen war stolz auf ihre Schönheit gewesen. Er hatte sie lesen gelehrt, noch ehe sie in die Schule gekommen war. Er hatte sie reiten gelehrt und war mit ihr durch den Hafen gegangen, durch die Stadt und durch die Wälder, er hatte sie im Kopf gehabt, hatte auf die Welt gezeigt und sie ein wenig besser gemacht als sie war, die kleinen Lügen, die einen Vater zum Vater machen und eine Tochter zur Tochter. Jetzt war das vorbei. Das musste es sein.
Er erwachte mit einem fröstelnden Unbehagen und ihm fiel ein, dass der Arzt ihm Medikamente gegen solche Augenblicke gegeben hatte. Er nahm sie aus dem Seesack, las das Etikett, überlegte und spülte sie im Waschbecken hinunter, öffnete noch ein Mineralwasser und starrte durch das schmutzige Fenster. Stadt und Hafen und Regen und die Wohnung mit den Kinderzeichnungen an der Küchenwand, dem Spülbecken und den grünen Fliesen im Badezimmer. Tut das hier weh? Wohin fahren die Schiffe? Werde ich es schaffen? Er sah, wie der Regen endete und ein neuer einsetzte, Stoßverkehr und Stadtgeräusche wie brutale Liebkosungen an den Fensterscheiben.
Im Zimmer stand auch ein Schrank.
Er öffnete den Seesack und hängte seine Habseligkeiten auf: einen alten und frischgereinigten Anzug, einen Mantel und einige Hemden, zwei Paar Schuhe und einen Hut. Er hatte Zweifel gehabt, was diesen Hut anging, er hatte ihn in Gedanken aufgesetzt und anprobiert, ehe er ihn bestellt hatte. Aber als der Hut dann eintraf, war er es, der zu keinem Hut passte. Es ist schwer zu wissen, was zwischen vier Wände passt, wer man ist, die Höhe und Breite einer Persönlichkeit. Er legte den Hut ins Schuhregal und stapelte Socken und Unterwäsche auf Kante daneben auf. Er kannte Menschen, die ihren rechten Arm für ein wenig Ordnung geben würden, er kannte erwachsene Männer, die nicht leben könnten, ohne zu wissen, was sie um vier Uhr machen würden, ganz zu schweigen von um fünf Uhr. Hans Larsen war ein solcher Mann.
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