»Sie sind so gut, Schwester!«
»Unsinn. Ich tue ja nur meine Pflicht.«
Beate behandelte die alte Frau so vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich, zog ihr einen Bademantel über und trug sie zu dem Korbsessel. Dann riß sie mit wenigen geschickten Griffen das Laken ab und säuberte die Gummiunterlage.
»Soll ich Ihnen helfen?« erbot sich Frau Klammer.
»Danke, nicht nötig. Das haben wir gleich.«
»Aber ich könnte doch ... ich stehe ja tagsüber schon auf ...«
»Nachts bleiben Sie ganz brav in Ihrem Bettchen! Sonst könnten wir beide Schwierigkeiten kriegen.« Sie hatte ein frisches Laken aus dem Schrank genommen und zog es über die Matratze. »Sehen Sie, da haben wir es schon.«
Beate half der alten Frau aus dem Sessel und wollte ihr den Bademantel ausziehen.
»Bitte, nicht!« wehrte sich die Patientin. »Mir ist so kalt.«
»Dann lassen wir ihn halt an. Wenn er Ihnen in der Nacht lästig wird, dann klingeln Sie einfach nach mir!« Beate bettete die alte Frau. »Ich komme gleich zurück und bringe Ihnen was für Ihr Bäuchlein!« versprach sie. »Ich werde jetzt mal ganz kurz durchlüften.«
Als sie mit dem Medikament zurückkam, schloß sie das Fenster wieder. Sie stützte Frau Grabowskys Kopf, damit sie die beiden Pillen besser schlucken konnte, und reichte ihr ein Glas Wasser.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, meine Damen!« sagte sie, als sie zur Tür ging.
»Ihnen auch, Schwester Beate!« sagte Frau Klammer.
Frau Grabowsky hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen in einem unhörbaren Gebet.
Zurück im Schwesternzimmer notierte Beate das Medikament, das sie der Patientin gegeben hatte und schrieb die Uhrzeit auf.
Bis Mitternacht gab es noch einige Unruhe auf der Station. Beate hatte kaum Gelegenheit, sich im Schwesternzimmer aufzuhalten. Danach hoffte sie sich ein wenig ausruhen zu dürfen. Von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens war gewöhnlich die friedlichste Zeit. Aber sie wurde noch einmal gerufen, nach Nummer 20. Es war das einzige Einzelzimmer in ihrer Station und besonders anspruchsvollen Privatpatienten vorbehalten. Im Moment war es von einer Schauspielerin belegt, die mit einer Gallenkolik eingeliefert worden war. Beate stürzte sofort los.
Trotzdem empfing Lilian Rotor sie unfreundlich: »Da sind Sie ja endlich!«
Beate wußte, daß es sinnlos gewesen wäre, sich zu verteidigen, und sich zu entschuldigen sah sie keinen Anlaß. Sie trat an das Bett und blieb abwartend stehen.
»Was starren Sie mich so an?« empörte sich die Patientin. »Ich weiß, daß ich entsetzlich aussehe.« Tatsächlich hatte sie kaum noch Ähnlichkeit mit der anziehenden Frau, die Beate vom Film und vom Fernsehen her kannte.
»Wenn Sie erst wieder gesund sind, werden Sie so schön wie immer sein, Frau Rotor!«
»Sie haben gut reden. Sie wissen ja nicht, wie mir zumute ist. Wegen dieser verdammten Kolik habe ich meine Rolle abgeben müssen.«
»Es wird andere interessante Rollen für Sie geben.«
»Sie haben keine Ahnung vom Theater!«
»Das sicher nicht«, gab Beate friedfertig zu, »aber vom Leben. Es geht immer auf und ab. Nach einem Tief kommt auch immer ein Höhepunkt.«
Die Patientin lachte auf. »Erst wird man älter, und dann wieder ein bißchen jünger! Ist es etwa das, was Sie behaupten wollen?«
»Sie wissen genau, wie ich es meine. Mit dem Älterwerden muß man sich abfinden. Aber Sie sind besser daran als die meisten Frauen. Sie können für Ihr Aussehen etwas tun. Diät, Gymnastik, Kosmetik. Damit bleibt man lange jung, und wenn alle Stricke reißen, gibt es immer noch eine Schönheitsoperation.«
»Sehr, sehr tröstlich.«
»Es ist für Ihren Gesundheitszustand bestimmt nicht günstig, wenn Sie grübeln und düstere Vorstellungen heraufbeschwören. Sie sollten den Klinikaufenthalt lieber nützen, sich zu entspannen. Sie haben es hier ja so schön wie in einem Sanatorium.«
»Nur daß ich krank bin und Schmerzen habe!«
»Sie würden sich besser fühlen, wenn Sie sich freundlicheren Gedanken hingeben würden, glauben Sie mir!«
»Ich will aber nicht denken, und schon gar nicht mitten in der Nacht! Ich will endlich schlafen.«
»Man hat Ihnen ein sehr starkes Schlafmittel gegeben.« Beate hatte sich darüber vergewissert, bevor sie zu der Patientin geeilt war.
»Das überhaupt nichts genutzt hat. Bitte, bitte, Schwester, helfen Sie mir! Bringen Sie mir noch etwas! Morphium!«
Das war eine jener Situationen, die Beate haßte. »Aber das darf ich nicht!« Es war ihr sehr unangenehm, einem Patienten eine Bitte abschlagen zu müssen.
»Ich glaube Ihnen nicht. Sie haben bestimmt Zugang zum Medikamentenschrank.«
»Ich muß mich an die Anweisungen der Ärzte halten.«
»Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie können einfach mitansehen, wie ich hier vor Schmerzen und vor Elend verrückt werde!« Lilian Rotor wechselte den Ton. »Bitte, bitte, liebe Schwester ... wie heißen Sie doch gleich?«
»Beate.«
»Bitte, liebe Schwester Beate, Sie sollen es ja auch nicht umsonst tun! Ich gebe Ihnen Geld. Hundert Mark? Genügt das?«
»Ich brauche kein Geld.«
»Unsinn. Jeder Mensch hat Geld nötig.«
»Ich nicht! Aber ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.« Beate ging zur Tür.
»Kommen Sie bestimmt zurück?«
»Sie können sich darauf verlassen.«
Beate lief zum Schwesternzimmer. Noch während des Gesprächs hatte sie über die Schauspielerin nachgedacht. Als Schauspielerin führte die Rotor wahrscheinlich ein sehr unregelmäßiges Leben. Es war möglich, daß sie Mißbrauch mit Aufputsch- und Beruhigungsmitteln trieb. Das konnte der Grund dafür sein, daß die wirklich sehr starke Dosis, die sie erhalten hatte, keine Wirkung zeigte. Andererseits konnte es aber auch sein, daß ihre innere Erregung die Wirkung aufhob. Es waren auch wohl nicht so sehr die Schmerzen, unter denen sie litt und sie nicht schlafen ließen, als die Angst um ihre Schönheit und damit um ihren Erfolg. Beate beschloß, es mit einem Placebo zu versuchen, einer großen rot-grünen Kapsel, die mit Puderzucker gefüllt war.
Als sie zurückkam, hatte die Patientin einen Hunderter auf den Nachttisch gelegt.
»Nein, Frau Rotor«, erklärte Beate, »ich will kein Geld. Das würde für mich die Sache noch gefährlicher machen. Falls es rauskommen sollte, daß ich etwas Verbotenes getan habe, wäre das schlimm genug für mich. Falls es sich dann noch rumspricht, daß ich mich dafür extra bezahlen lassen habe, fliege ich bestimmt.«
»Niemand wird davon erfahren.«
»Versprechen Sie mir das?«
»Ist doch ganz klar. Jetzt geben Sie mir endlich das Morphium!«
Beate zögerte. »Ich muß ganz sichergehen. Sehen Sie, Frau Rotor, es ist wahrscheinlich, daß Sie morgen eine bessere Nacht haben. Ich wünsche es Ihnen. Vielleicht können Sie aber auch morgen nicht schlafen. Dann bin ich aber nicht da. Also werden Sie meine Kollegin herbeizitieren, und sie wird sich, genau wie ich, sträuben, Ihnen etwas zu besorgen. Das macht mir angst.«
»Wieso denn?«
»Daß Sie ihr sagen werden: ›Aber Schwester Beate hat es getan !‹«
»Nie im Leben! Wer denkt denn an so etwas!«
»Ich. Jede andere an meiner Stelle würde es auch tun.«
»Ich schwöre Ihnen ...«
»Also gut. Ich werde es tun. Aber wohl ist mir nicht dabei zumute.« Beate legte der Patientin die Kapsel in die Hand.
Lilian Rotor betrachtete sie mißtrauisch. »Sieht komisch aus.«
»Ich habe es geklaut!« behauptete Beate.
»Wird man es nicht merken?«
»Doch. Die Oberschwester kontrolliert den Medikamentenschrank regelmäßig. Aber man wird es mir nicht nachweisen können. Wenn Sie den Mund halten.« Sie reichte der Patientin das Wasserglas. »Also runter damit! Oder ist es Ihnen doch zu gefährlich?«
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