Sie kannte ihn nur vom Sehen. »Mein Mann hatte heute früh einen Angina-Pectoris-Anfall.«
»Sie scheinen sich ja auszukennen.«
»Ich möchte dabei sein, wenn er das Ergebnis der Untersuchung erfährt.«
»Na, bitte.«
»Wann wird das sein?«
Der Professor wechselte einige Worte mit einem anderen Arzt. »Morgen nachmittag um drei. In meiner Ordination.«
»Danke, Herr Professor.«
Er ließ sich die Tür zu dem Krankenzimmer öffnen, vor dem sie standen, und verschwand darin samt seinem Troß.«
»Ich muß jetzt laufen«, sagte Beate, »du weißt, Vater wird nervös, wenn er zu lange auf Florian aufpassen muß.«
»Grüß die beiden von mir.«
»Wird gemacht. Dann also bis morgen.« Sie küßte ihn noch einmal zärtlich und eilte dann mit ihren weit ausholenden, elastischen Schritten davon. Aber als sie die Treppe erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal zu ihm um.
Er stand immer noch da, wo sie ihn verlassen hatte.
Sie warf ihm eine Kußhand zu, und er winkte, ein wenig müde, zurück.
Als Beate ihre Wohnung betrat, hatte sie sofort das Gefühl, daß niemand da war. Tatsächlich waren Kinderzimmer und Küche leer. Sie klopfte an die Tür des alten Herrn, aber erhielt keine Antwort.
Sie dachte kurz nach und machte sich dann daran, das Spülbecken zu säubern und das Geschirr fortzuräumen. Danach ging sie in das Schlafzimmer und riß das Fenster zum Hof auf. Werders Wohnung lag im Erdgeschoß. Das hatte den Nachteil, daß sie recht laut war, dagegen den Vorteil, daß Beate sich mit dem Kinderwagen leichtgetan hatte und der Garten mit wenigen Schritten zu erreichen war.
Auch jetzt ging es lebhaft dort zu. Ein Baby schrie und Hunde bellten. Frauen saßen in der Sonne, ließen ihre Stricknadeln klappern und unterhielten sich. Kinder spielten, lachten, lärmten.
Florian und sein Großvater waren nicht zu sehen. Beate seufzte erleichtert auf. Wahrscheinlich, dachte sie, waren sie spazierengegangen. Sie streifte die Schuhe von den Füßen, zog den Rock aus und legte sich, die Hände unter dem Kopf verschränkt, auf ihr Bett. Sie hatte sich angewöhnt, jede Gelegenheit zu nutzen, die sich ihr zum Ausspannen bot.
Sie dachte an Frank und daran, wie sonderbar klein er gewirkt hatte, als er da in seinem rotseidenen Hausmantel allein in dem hohen Gang gestanden hatte. Dabei war er tatsächlich groß, über 1,80.
Als sie ihn kennengelernt hatte, auf einem Faschingsball im Deutchen Theater, sie erinnerte sich noch genau daran, war er ihr wegen seiner Größe unter den anderen jungen Leuten aufgefallen. Er war als Pirat erschienen, ein Tuch, das aus demselben Material hätte sein können wie sein Hausmantel, um den Kopf geschlungen. Vor dem einen Auge hatte er eine schwarze Klappe getragen, aber das andere hatte vor Unternehmungslust und Heiterkeit gefunkelt.
Wie kam es, daß er in den wenigen Jahren, die sie sich kannten, seinen Schwung so gänzlich verloren hatte? War es die Ehe, die ihm nicht bekam? Bedrückte ihn die Verantwortung der Vaterschaft? Waren es die Sorgen um sein Geschäft, die ihn erstickten? Oder war die Tatsache, daß sein Herz nicht mehr genügend durchblutet war, die Ursache seiner Veränderung?
Er war nicht mehr der Mann, den sie geheiratet hatte, aber sie fühlte, daß sie ihn, nachdem sie das Stadium blinder Verliebtheit überwunden hatte, nur um so tiefer und inniger liebte.
Nein, es war kein Fehler gewesen, ihr Leben mit dem seinen zu verbinden. Vielleicht hätte sie vorsichtiger sein sollen, die ungewollte Schwangerschaft vermeiden müssen. Aber sie war immer schlecht mit der Pille ausgekommen, hatte die Präparate immer wieder ändern müssen, weil sie sie nicht vertrug. Ihr Gynäkologe war überzeugt, daß die Nebenwirkungen, unter denen sie litt – Übelkeit, Erbrechen, Schwindelanfälle und Gewichtszunahme – einen psychologischen Grund haben müßten. Sie stemmte sich, meinte er, innerlich dagegen, sich chemisch unfruchtbar machen zu lassen. Aber diese Erklärung nutzte ihr auch nichts. Sie hatte sich Mühe gegeben, sich an das jeweilige Präparat zu gewöhnen, aber immer wieder vergeblich.
Als dann Florian unterwegs gewesen war, hatte sie nicht das Herz gehabt, die Schwangerschaft abzubrechen. Frank war auch nicht dafür gewesen. Natürlich wäre das kein Grund gewesen zu heiraten. Es war heutzutage ja gar nicht einmal mehr unüblich, daß junge Paare ohne Trauschein zusammen lebten. Aber sie hatten beide gewollt, daß alles seine Ordnung haben sollte. Da er damals gerade sein Studium der Betriebswirtschaft abgeschlossen, sie das Physikum hinter sich hatte, schien auch der Zeitpunkt durchaus günstig. Sie waren damals so voller Hoffnung gewesen.
Beates Gedanken glitten in die erste wunderbare Zeit ihrer Liebe zurück. Der Lärm hinter dem geschlossenen Fenster wurde zu einem gleichmäßigen, an- und abschwellenden Geräusch. Ohne es zu merken, versank Beate aus ihrem Traum vom Glück in einen tiefen Schlaf. –
Sie wachte erst auf, als Florian sie an den Fußsohlen kitzelte.
»Mami«, rief er, »Mami! Du hast im Schlaf gelacht!«
»Ja, wenn du mich auch kitzelst!« Sie nahm ihn liebevoll in die Arme und zog ihn zu sich auf das Bett. »Wie spät ist es?«
»Weiß nicht.«
Sie nahm ihren Wecker vom Nachttisch und hielt ihn sich vor die Augen. »Sechs Uhr vorbei!« rief sie erschrokken. »Ich muß das Abendbrot richten.«
»Mußt du nicht!« erklärte Florian strahlend. »Haben Opa und ich ganz alleine gemacht.«
»Dann verdienst du ein ganz dickes Bussi.« Sie küßte ihn auf die Wange.
»Opa auch?«
»Ja, Opa auch. Aber jetzt laß mich aufstehen.« Sie stellte ihn auf die kurzen, stämmigen Beine und schwang sich aus dem Bett. »Sag Opa, ich komme.« Mit einem kleinen Klaps auf den Allerwertesten entließ sie ihn.
Sie zog sich wieder an, ging ins Bad, wusch sich das Gesicht und Augen mit kaltem Wasser und bürstete sich ihr vom Schlaf zerzaustes rotblondes Haar.
In der Küche war der Tisch tatsächlich schon mit allem, was dazu gehört, gedeckt. Florian stand daneben, strahlend vor Selbstzufriedenheit, der Schwiegervater mit verlegenem Stolz.
»Wie lieb von euch!« rief Beate und gab dem alten Herrn den versprochenen Kuß.
»Wir dachten, du könntest eine kleine Verschnaufpause brauchen. Hast du wenigstens etwas geschlafen?«
»Und wie!« rief Florian. »Ich habe sie kaum wach gekriegt!«
»Ich bin tatsächlich eingepennt«, sagte Beate, »womit ich gar nicht gerechnet hatte. Jetzt geht es mir viel besser. Ich habe sogar Hunger.«
Sie setzten sich.
»Du siehst auch viel besser aus. Wie geht es Frank?«
»Er fühlt sich schon wieder putzmunter. Morgen wird er geröntgt.«
»Und dann?«
»Werden sie ihn wohl auf jeden Fall nach Hause schikken.«
»Wieso bist du da so sicher?«
»Er ist ja noch jung, und es war sein erster Herzanfall. Wenn er seine Gewohnheiten ändert und auf sich aufpaßt, muß es keinen zweiten geben. Für den Notfall werden sie ihm Nitrotabletten verschreiben.«
»Bist du wirklich so optimistisch?«
Sie lächelte ihren Schwiegervater an. »Ich will es sein. Ich will mich nicht verrückt machen, bevor das Untersuchungsergebnis da ist.«
»Da hast du ganz schön recht. Du warst schon immer ein vernünftiges Mädchen.« Er wechselte das Thema und begann, von Florian lebhaft unterstützt, von ihren Unternehmungen an diesem Nachmittag zu erzählen.
Nach dem Essen, als Beate die Küche mit Florians ungeschickter Hilfe aufgeräumt hatte, badete sie ihn und steckte ihn ins Bett. Sie blieb noch bei ihm und erzählte ihm eine Geschichte. Der ereignisreiche Tag hatte ihn müde gemacht, und er schlief sehr schnell ein, so daß ihr diesmal ein herzzerreißender Abschied erspart blieb.
Inzwischen war es Zeit für sie geworden, in die Klinik zu fahren. Sie mußte ihre Arbeit um acht Uhr abends antreten. Aber vorher verabschiedete sie sich noch von ihrem Schwiegervater.
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