»Ich wollte dir nur sagen, daß Frank dir sehr dankbar ist.«
»Cum grano salis«, erwiderte der alte Herr trocken.
»Wie meinst du das?«
»Es wird ihm wohl alles andere als angenehm sein, sich von mir helfen lassen zu müssen. Er hatte immer schon seinen dummen Stolz.«
»Von ›dumm‹ würde ich in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Aber ich weiß schon, wie du es meinst. Also dann, bis morgen.«
»Rackere dich nicht zu sehr ab!«
Sie lächelte ihm zu. »Werd’ ich schon nicht! Gute Nacht, Vater!«
Kurz vor acht betrat Beate die »Privatklinik Dr. Scheuringer«. Sie trug schon ihre Schwesterntracht, ein blauweiß gestreiftes Kleid mit weißer Schürze, in der sie sich immer noch wie verkleidet fühlte. Ein weißer Kittel wäre ihr lieber und auch praktischer erschienen. Aber darin hätte man sie für eine Ärztin halten können, und das wollte die Krankenhausleitung verhindern. Die breiten gläsernen Vordertüren waren längst geschlossen, und sie benutzte, wie die anderen Angestellten, den Hintereingang, der von dem Nachtpförtner, einem kräftigen jungen Mann, Student der Philologie, bewacht wurde. Ohne sich von ihm aufhalten zu lassen, eilte sie weiter. Durch einen schwach beleuchteten Flur gelangte sie zum Lift und fuhr in das 4. Stockwerk hinauf, ihre Etage. In dem großen, fast quadratischen Zimmer, das den Schwestern tagsüber als Aufenthaltsraum diente, legte sie den Regenmantel ab, den sie über ihre Tracht gezogen hatte. Sie schloß ihren Spind auf, hängte den Mantel hinein und holte ihr Häubchen heraus. Vor dem Spiegel kämmte sie sich ihren weichen Pony aus der Stirn zurück und setzte ihr Häubchen auf. Sie tuschte sich die Wimpern nach und legte Lippenstift auf, nicht aus Eitelkeit, sondern weil sie wußte, daß eine blasse und müde Schwester auf die Patienten deprimierend wirkte.
Als Sybille hereinkam, schlank, sportlich, mit einem harten, fast männlichen Gesicht, war Beate gerade fertig geworden. Im Gegensatz zu Beate war Sybille gelernte Schwester, und sie hatte Beate im Lauf der Zeit einiges beigebracht.
»Gut siehst du aus!« sagte Sybille.
»Danke! Ich habe sehr schön geschlafen.«
»Freut mich für dich.« Sybille übergab Beate die Patientenliste, auf der auch die Medikamente vermerkt waren, die sie zur Nacht bekommen hatten, und berichtete ihr über die Neuzugänge. Zu einem privaten Wortwechsel kam es nicht. Sybille, die den Tag über Dienst gehabt hatte, drängte es nach Hause, und Beate mochte sie nicht aufhalten.
»Wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt«, agte Sybille, »im Dritten arbeitet Otti. Auf die kannst du dich verlassen.«
»Gut zu wissen.«
Sybille hatte ihr Häubchen abgelegt und ihren Mantel angezogen. »Aber ich nehme nicht an,daß es Schwierigkeiten geben wird. Ich hab’ es dir nur auf alle Fälle gesagt.«
Beate lächelte sie an. »Danke.«
»Na, dann will ich mich mal auf die Socken machen.«
»Ich wünsche dir einen schönen Abend!«
»Hat sich was! Ich hau’ mich gleich in die Federn. Will morgen früh zum Tennis raus.«
»Wie ich dich beneide!«
»Hättest du dir keine Familie zugelegt, könntest du es dir auch leisten.«
»Wie recht du hast!«
Beate nahm die kleine Stichelei nicht übel. Sybille hatte sie gewarnt, so früh zu heiraten, und sie war immer noch überzeugt, daß sie damit recht gehabt hatte. Aber Beate war sicher, daß sie es nur gut meinte. Natürlich war ihre Ehe für Sybille auch ein echter Verlust gewesen. Obwohl sie nicht eigentlich Freundinnen waren, hatten sie früher doch hin und wieder einen Teil der Freizeit zusammen verbracht, waren zusammen ins Kino gegangen oder zum Tennisspielen. Es war nie darüber gesprochen worden, aber Beate glaubte im stillen, daß sie Sybille ihre Stellung in der Klinik verdankte oder doch zumindest mitverdankte.
Nach dem Abitur hatte Beate, wie so viele andere, nicht gleich einen Studienplatz bekommen. Deshalb hatte sie erst einmal unentgeltlich, ein Pflegepraktikum gemacht, eine Voraussetzung dafür, im Krankenhaus arbeiten zu können. Das Praktikum hatte zwei Monate gedauert. Danach hatte sie, auf ein Angebot der Klinik hin, als bezahlte Kraft weitergemacht. Als sie dann endlich studieren durfte, hatte sie sich auf die Liste der Nachtwachen setzen lassen. Man hatte ihr die halbe Personalstelle angeboten, was für sie ein großes Glück bedeutete, weil es ihr ein sicheres, wenn auch kleines Einkommen garantierte.
Normalerweise wurden Studenten, die sich für die Nachtwache aufschreiben ließen, nur bei Bedarf kurzfristig angerufen. Das war natürlich, wenn man das Geld brauchte, ein ewiges Hängen und Würgen. Außerdem hatte es den Nachteil, daß man alle Pläne umwerfen mußte, wenn dann der ersehnte, aber oft nicht erwartete Anruf der Klinik kam. Beate teilte sich ihre Planstelle mit einem Medizinstudenten namens Günther Schmidt, einem jungen Mann, den sie sehr mochte. Sie konnten untereinander ausmachen, wer wann Nachtwache halten wollte. Zusammen hatten sie vierzehn Nächte im Monat zu arbeiten, und wenn Günther einmal verreisen wollte, kam es vor, daß Beate mehr als ihre sieben Wachen übernahm. Dafür entlastete Günther sie dann im nächsten Monat. Dieser Job war für Beate die ideale Lösung, zumindest ihrer finanziellen Probleme.
Darüber hinaus liebte sie ihn aber auch noch auf andere Weise. Sie freute sich immer wieder auf den Antritt ihrer Nachtwache, den sie mit einem Rundgang durch die Krankenzimmer begann. Dabei begrüßte sie jeden Patienten einzeln, fragte nach dem Befinden und versicherte, daß sie aufbleiben und auf Klingelruf zu erreichen sein würde. Den Neuzugängen stellte sie sich erst einmal vor. Es tat ihr wohl, daß sich die Kranken durch ihr bloßes Erscheinen und die wenigen Worte, zu denen sie Zeit fand, beruhigen, ermutigen und ermuntern ließen. Das war eine Fähigkeit, die nicht jeder Mensch – auch nicht jede Schwester und jeder Arzt – besaß. Sie tat sich nichts darauf zugute, aber sie sah darin eine Bestätigung, daß es richtig war, Medizin zu studieren. Auch wenn es, bedingt durch ihre Familie, nur langsam voranging, blieb das Ziel erstrebenswert und auch erreichbar.
Nachdem sie alle Patienten besucht hatte, ging sie in das Schwesternzimmer zurück. Sie hatte sich gerade vor die Signaltafel gesetzt, als eine Kontrollampe aufleuchtete. Nummer 17. Beate wunderte sich. Nummer 17 war Ellen Klammer, eine junge Frau, die in zwei Tagen entlassen werden sollte. Es war unwahrscheinlich, daß sie einen Rückfall erlitten hatte. Dennoch eilte sie sofort in das entsprechende Zimmer.
»Gut, daß Sie kommen, Schwester!« rief Frau Klammer halblaut.
»Ja, was gibt’s denn?« Beate beugte sich über das Bett.
»Schnüffeln Sie mal!«
Beate verstand nicht sogleich, was die Patientin meinte. Flüsternd gab ihr Frau Klammer einen weiteren Hinweis. »Ich glaube, die Frau Grabowsky hat sich vollgemacht.«
»Vielleicht hat sie nur ein Buffi gelassen«, sagte Beate, mehr um sich selber, als um Frau Klammer zu beruhigen.
Aber Frau Klammer behielt recht. Das bedeutete, daß Beate die Patientin aus dem Bett heben, ihr das Nachthemd ausziehen und sie waschen mußte. Zum Glück war sie sehr leicht, eine alte Frau schon über achtzig, die kaum noch Fleisch auf den Knochen hatte. Sie wimmerte, als Beate sie behandelte.
»Haben Sie Schmerzen, Frau Grabowsky?« fragte Beate.
»Nein, nein.«
»Aber dann müssen Sie doch auch nicht weinen.«
»Ich kann nichts dafür, wirklich nicht.«
»Aber das wissen wir doch alle.«
»Es ist mir so peinlich.«
»Braucht es nicht zu sein, wirklich nicht.« Beate zog ihr ein frisches Nachthemd über. »Glauben Sie, daß Sie da einen Augenblick im Sessel sitzen können?«
»Daß ich Ihnen so viel Mühe machen muß!«
»Aber, Frau Grabowsky! Das ist mein Beruf! Wenn ich ihn nicht lieben würde, hätte ich ihn mir nicht ausgesucht.«
Читать дальше